Die meisten so genannten Innovationen der Pharmaindustrie sind therapeutisch überflüssig. Sie tragen nichts zur Verbesserung der
Gesundheitsversorgung der Patienten bei - auch wenn Werbung und honorierte Meinungsbildner das Gegenteil verbreiten. Eins ist jedoch sicher:
"Innovationen" verteuern die Therapie, und das ist ihr Zweck. Die Materialschlachten um Marktanteile und Umsatz bedrohen Qualität und
Wirtschaftlichkeit der medizinischen Versorgung. Auch die steigenden Beitragssätze in der GKV machen es erforderlich, konsequent gegenzusteuern.
Echte therapeutische Fortschritte sind selten. Wir gehen davon aus, dass pro Jahr in der klinischen Medizin höchstens zwei neue Wirkstoffe beachtenswert
sind. Für die Praxis ist nur alle zwei Jahre ein therapeutischer Fortschritt feststellbar. Solche Innovationen bedürfen keiner Werbung. Sie werden vom
Hersteller-unabhängigen pharmako-therapeutischen Sachverstand erkannt und kostenlos gefördert. Mit dem gleichen Sachverstand lassen sich
Marketing-Windeier erkennen und zu einer "Negativliste Pseudoinnovationen" zusammenfassen.
Die Selbstverwaltung der Ärzte erscheint wegen der verbreiteten Korruption medizinischer Meinungsbildner handlungsunwillig bzw. handlungsunfähig.
Dem Bundesausschuss ist die Erstellung einer Negativliste Pseudoinnovation nicht möglich, seit die Warenanbieter dessen Eingriffsmöglichkeiten per
europäischem Kartellrecht blockiert haben. Noch nicht einmal die von EU-Ländern übernommene Erfolgsstory der Festbeträge bleibt im
Ursprungsland unverwässert erhalten. In der Neufassung des Gesetzes wird das jährliche Einsparvolumen von 1,3 Milliarden DM auf 650 Millionen DM
reduziert.
Die Gesundheitsministerin ist gefordert, wenn sie die Beitragszahler der Krankenkassen vor Geldverschwendung durch Pseudoinnovationen schützen will. Der
Markt regelt sich nicht von selbst: Marktkräfte wirken sich überwiegend kostensteigernd aus, weil kapitalkräftige Warenanbieter eine
qualitätsorientierte Bereinigung des Angebots verhindern.
PSEUDOINNOVATIONEN GEFÄHRDEN THERAPEUTISCHE QUALITÄT: Besinnung auf bewährte Basissubstanzen ist kein Zeichen von
Fortschrittsfeindlichkeit, sondern von therapeutischer Sorgfalt. Werden bewährte - und in der Regel patentfreie und daher preiswerte - Präparate
Marketing-bedingt von "Neuheiten" verdrängt, trennt man sich automatisch von Produkten mit umfangreichem Erfahrungshintergrund.
Der klinische Nutzen von Basis-Antidiabetika wie Glibenclamid (EUGLUCON u.a.), Insulin (HUMINSULIN u.a.) oder Metformin (GLUCOPHAGE u.a.) war
gerade erst durch die groß angelegte UKPDS* belegt (a-t 1998; Nr. 10: 88-90), da propagieren Firmen im
großen Maßstab die Umstellung auf so genannte Innovationen. Heute ist das erst seit fünf Jahren erhältliche Glimepirid (AMARYL; a-t 1997; Nr. 1: 2-3) Marktführer mit mehr als 2 Mio. verordneten Packungen im Wert von knapp 200 Mio. DM
Apothekenumsatz. Groteske Werbebehauptungen wie "Physiologisch. Harmonisch."1 bahnten die Verordnungen. Für das erst Ende 1998
eingeführte Repaglinide (NOVONORM) wird heute mehr Geld ausgegeben als für EUGLUCON, das immer noch das meistverordnete (und teuerste)
Glibenclamid-Produkt ist. Der Beleg des langfristigen Nutzens von Glibenclamid wird erfolgreich durch vom Marketing profilierte marginale Vorteile von Repaglinide
wie flexiblere Mahlzeiten ausgespielt (a-t 1998; Nr. 11: 100-1).
Noch dicker kommt es bei den Glitazonen, die mit irreführender Werbung auf den Markt gedrückt werden - z.B. "von Anfang an"
Pioglitazon (ACTOS). Dabei darf das Glitazon - wie Rosiglitazon (AVANDIA; a-t 2000; 31: 66-7) - wegen
unzureichender Wirksamkeit ausschließlich als Zusatztherapeutikum verwendet werden (a-t 2000; 31: 103).
Schutz vor diabetischen Folgeschäden und kardiovaskulären Erkrankungen ist bei Markteinführung überhaupt nicht geprüft. Auf Grund
der bisherigen Erfahrungen sind die als "neue Dimension"2 in der Diabetes-Therapie beworbenen Glitazone als bedenklich einzustufen.
Therapeutisch inakzeptabel sind vor allem zunehmendes Körpergewicht sowie Herz und Gefäße schädigende Effekte (a-t 2000; 31: 66-7 und 2001; 32: 64).
Auch der Trend zu Kunstinsulinen lässt sich nicht mit erwiesenen klinischen Vorteilen begründen. Marketing-Strategien, einschließlich der
fragwürdigen Stellungnahme des Vorstandes der Deutschen Diabetes Gesellschaft (a-t 2000; 31: 37-8), machten
Insulin lispro (HUMALOG) in nur fünf Jahren zum zweithäufigst verordneten Insulin. Dabei stehen Kunstinsuline wie Lispro oder Glargin (LANTUS; a-t 2000; 31: 108) auf Grund höherer Affinität zum Rezeptor des Insulin-ähnlichen Wachstumsfaktors IGF
1 im Verdacht, proliferative diabetische Retinopathien induzieren und beschleunigen sowie Krebs fördern zu können (a-t 1999; Nr. 6: 66) - überflüssige Pseudoinnovationen mit Damokles-Schwert.
Pseudoinnovationen ohne Vorteile, aber unzureichend belegtem Langzeitnutzen, finden sich in vielen anderen Wirkstoffgruppen, beispielsweise unter Alpha-
Rezeptorenblockern, Kalziumantagonisten, Protonenpumpenhemmern, Schleifendiuretika, thiazidähnlichen Diuretika u.a. (Tabelle). Auch Neuerungen wie
Zolpidem (BIKALM u.a.; a-t 1996; Nr. 7: 72) oder Angiotensin-II-Antagonisten entpuppen sich rasch als Varianten
bekannter Therapeutika.
Angiotensin-II-Antagonisten gibt es erst seit 1995. Im Jahr 2000 wurden - Kombinationen nicht mitgerechnet - bereits 3,8 Mio. Packungen im Wert von 770
Mio. DM (Apothekenabgabepreis) verordnet, im Vergleich zu 19,6 Mio. Packungen ACE-Hemmern für 1.280 Mio. DM. Der Nutzen von ACE-Hemmern zur
Hochdruckbehandlung ist hinsichtlich Folgeerkrankungen wie Schlaganfall, koronarer Herzkrankheit, Gesamtmortalität u.a. gesichert (a-t 2001; 32: 2), nicht jedoch der für die teuren Angiotensin-II-Antagonisten. Auch bei Herzinsuffizienz ist der
lebensverlängernde Effekt von ACE-Hemmern gut dokumentiert, der Stellenwert der Angiotensin-II-Hemmer hingegen unsicher (a-t 2000; 31: 58-9). Bei ACE-Hemmer-bedingten und anderen Angioödemen in der Vorgeschichte sind Angiotensin-
II-Antagonisten zu meiden (a-t 1998; Nr. 11: 105). Die Sartane können jedoch als Alternative bei den etwa 3%
der Patienten mit quälendem Hustenreiz unter ACE-Hemmern erwogen werden.
Ebenfalls nicht zur Routineverordnung, sondern Nischenindikationen vorbehalten ist der Thrombozytenaggregationshemmer Clopidogrel (ISCOVER, PLAVIX).
Die Verordnung des im Vergleich zu ASS mehr als fünfzigfach teureren Clopidogrel lässt sich nur bei Gegenanzeigen für ASS rechtfertigen (a-t 1998; Nr. 8: 70-1). Es wirkt in der Sekundärprophylaxe vaskulärer Ereignisse wie Schlaganfall nicht relevant
besser als Azetylsalizylsäure (ASS, ASPIRIN u.a.; a-t 2001; 32: 34). Clopidogrel kann allerdings als Reservemittel
die Vorläufersubstanz Ticlopidin (TIKLYD u.a.) ersetzen, da es offenbar weniger knochenmarktoxisch ist.
KOSTENERSPARNIS: Bereits die wenigen in der Tabelle genannten Beispiele erlauben Kosteneinsparungen von knapp drei Milliarden (Mrd.) DM,
wenn auf bewährte Alternativen umgestellt wird. Die Qualität der therapeutischen Versorgung der Patienten lässt sich dadurch sogar
verbessern.
Zu ähnlichen Ergebnissen kommt U. SCHWABE auf einer Anhörung im Deutschen Bundestag zum Arzneimittelbudget-Ablösungsgesetz. Er
berechnet für das Jahr 2000 und den Gesamtmarkt der GKV-finanzierten Arzneimittel ein Einsparpotenzial von 2.5 Mrd. DM durch Verzicht auf teure
Pseudoinnovationen ("Analogpräparate").3 Umstellung auf Generika könnte noch einmal 3 Mrd. DM Einsparung
ermöglichen.4 Insgesamt könnten also die Ausgaben für Arzneimittel um über 5 Mrd. DM oder 13% des GKV-finanzierten
Arzneimittelbedarfs in der Praxis gesenkt oder für echte therapeutische Innovationen beziehungsweise andere Therapieverfahren verwendet werden, ohne
dass die Beiträge steigen.
FAZIT: Die angestrebte Reform des Gesundheitssystems sollte die Vielfalt so genannter Innovationen, die keine eigenen therapeutischen Vorteile bieten, durch
Erweiterung der Negativliste unter Kontrolle bringen.
Pseudoinnovationen behindern den therapeutischen Fortschritt, da sie Gelder
verschlingen, mit denen echte therapeutische Fortschritte finanziert werden könnten.
Eine Negativliste für Pseudoinnovationen sowie weitere generische
Umstellungen können mehr als 5 Mrd. DM oder ein Achtel der Gesamtkosten der ambulanten Arzneimittelkosten aktivieren, ohne dass die medizinische
Versorgung eingeschränkt wird.
Qualität und Sicherheit der Arzneimitteltherapie steigen, wenn man sich auf
bewährte Therapieprinzipien konzentriert und weitgehend auf wenig erprobte Neuheiten verzichtet.
Die Kosteneinsparung schützt die Versicherten vor Beitragserhöhungen
und die Ärzte vor Regressen.
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