Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (Reuptake-Inhibitor; SSRI) werden bisweilen als Antidepressiva
beschrieben, bei denen "der Hausarzt nicht viel falsch machen kann".1 Während trizyklische Antidepressiva (TZA) üblicherweise
einschleichend dosiert werden, um anticholinerge und sedierende Effekte gering zu halten, gibt es bei SSRI für die meisten Patienten eine Einheitsdosis.
Angeblich fallen "bei Risikopatienten und Alterspatienten ... viele Probleme weg, die sich bei der Verordnung von Trizyklika stellen
würden".1 Lassen sich solche werbewirksamen Einschätzungen ("Bei Depression einfach CIPRAMIL"2) untermauern?
Immerhin finden sich im Warnbereich der britischen Spontanerfassung unerwünschter Wirkungen unter den sechs am häufigsten mit tödlicher
Anwendungsfolge in Verbindung gebrachten Arzneimitteln drei SSRI (a-t 4 [1997], 40).3 In den USA nimmt
Fluoxetin (FLUCTIN u.a.) Rang 3 sowohl nach Verordnungswert (Dollar) als auch nach Meldehäufigkeit in der Nebenwirkungsstatistik4 ein. Der erste
SSRI Zimelidin (NORMUD) war nur 18 Monate lang auf dem Markt, bis er 1982 wegen immuntoxischer Schäden ("Zimelidin-Syndrom") und
GUILLAIN-BARRÉ-Syndrom vom Markt genommen werden musste (a-t 2 [1985], 15).
THERAPIEENTSCHEIDUNG: Mittelschwere oder schwere Depressionen mit regelmäßigen morgendlichen Schlafstörungen (typischerweise
zwischen zwei und vier Uhr) und sorgenvoll-grübelndem Wachliegen, länger dauerndem Verlust des Antriebs, anhaltender innerer Unruhe, Herabstimmung
des Affekts bzw. Verlust des Selbstwertgefühls erfordern eine Behandlung mit Arzneimitteln, unabhängig davon, ob zusätzlich eine
wünschenswerte psychotherapeutische Intervention erfolgt. Unbehandelt steigt das Risiko von Suiziden. Somatische Symptome können auftreten oder
sich verschlechtern.
Zur Therapie stehen neben tri- oder tetrazyklischen Antidepressiva Monoaminooxidase(MAO)-Hemmer und die selektiven Serotonin-
Wiederaufnahmehemmer Citalopram (CIPRAMIL; a-t 11 [1996], 106), Fluoxetin, Fluvoxamin (FEVARIN), Paroxetin
(SEROXAT, TAGONIS) und Sertralin (GLADEM, ZOLOFT; a-t 4 [1997], 40) zur Verfügung. Benzodiazepine
eignen sich wegen fehlender antidepressiver Wirkung und rasch eintretender Gewöhnung nicht zur Behandlung depressiver Störungen (cave
Niedrigdosisabhängigkeit), mit Ausnahme der kurzfristigen Überbrückung krisenhaft zugespitzter Situationen oder akuter Suizidalität.
WIRKWEISE: Der Einfluss von Antidepressiva auf Neurotransmitter ist gut untersucht, ohne dass sich damit ihr Wirkmechanismus hinreichend
erklären lässt. Während TZA und SSRI die Wiederaufnahme von Noradrenalin und/oder Serotonin hemmen, erhöhen MAO-Hemmer die
zerebrale Noradrenalin- und Serotoninkonzentration, indem sie die abbauenden Enzyme hemmen. Der Mechanismus der Serotonin-Wiederaufnahmehemmung ist seit
langem bekannt, vor allem von TZA wie Clomipramin (ANAFRANIL u.a.) sowie weniger ausgeprägt von Amitriptylin (SAROTEN u.a.), Imipramin (TOFRANIL
u.a.) u.a.5 Erst seitdem selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer vom Typ des Fluoxetin zur Verfügung stehen, findet das Wirkprinzip besondere
Beachtung. Dass Serotonin jedoch nur einer unter mehreren Botenstoffen bei der Pathogenese der Depression sein kann, "ergibt sich auch aus den
fehlgeschlagenen Versuchen, mit Tryptophan, der Serotonin-Vorstufe, über eine verstärkte Serotonin-Bildung im Gehirn einen erkennbaren
antidepressiven Effekt zu erreichen".6
ANSPRECHRATEN UND WIRKSTÄRKE: In zahlreichen Studien liegen die Ansprechraten von SSRI (meist definiert als Verminderung des
Punktwertes auf der HAMILTON-Depressions-Skala um die Hälfte) bei über 60%5 und sind damit den TZA in etwa vergleichbar. Die therapeutische
Wirksamkeit von SSRI entspricht daher bei milden, ambulant behandelbaren Erkrankungen der von TZA (a-t 4
[1993], 38). Allerdings vergleichen die Studien zum Teil nicht ausreichende Dosierungen von TZA mit Vollwirkdosen von SSRI. Zudem beinhalten SSRI-Studien
oft ambulante und daher nicht wirklich schwerst depressive Patienten. In großen Metaanalysen lässt sich kein relevanter Unterschied zwischen TZA und
SSRI finden.7,8 In drei einwandfrei durchgeführten Studien wirken SSRI bei schweren depressiven Störungen jedoch eindeutig
schlechter als TZA.9-11 14 (64%) von 22 schwer depressiven Therapieversagern auf das trizyklische Antidepressivum Nortriptylin (NORTRILEN) sprechen
auf den hierzulande nicht erhältlichen MAO-Hemmer Phenelzin (Großbritannien: NARDIL) an, jedoch keiner der drei Patienten, die auf Fluoxetin umgestellt
werden.12
Schwer Depressive leiden fast immer unter erheblicher innerer Agitiertheit sowie unter Schlafstörungen. Im therapeutischen Alltag fehlt den SSRI der dann
erwünschte sedierende Effekt vieler TZA. Die empfohlene Komedikation13 von Benzodiazepinen gefährdet die Patienten durch Abhängigkeit und
Interaktionen mit unerwartet hohen Benzodiazepinspiegeln, die von sedierenden Neuroleptika durch extrapyramidale Symptome und Auslösung einer
pharmakogenen Depression.
Für die verschiedenen SSRI ist kein Unterschied im klinischen Nutzen auszumachen. Ein Wechsel auf ein anderes Präparat bei Nichtansprechen
lässt sich nicht durch Studien begründen.5 9 (50%) von 18 Patienten, bei denen Fluoxetin nicht wirkt, setzen nachfolgend auch Sertralin wegen
mangelnder Wirksamkeit ab.14
NEBENWIRKUNGEN: Anticholinerge Störwirkungen wie Mundtrockenheit, Verstopfung, Miktions- und Sehstörungen treten im Vergleich zu TZA
deutlich seltener und schwächer auf und lassen SSRI attraktiv erscheinen. Unter SSRI müssen jedoch häufig unangenehme Serotonin-typische
Effekte in Kauf genommen werden wie massive Kopfschmerzen, Ängstlichkeit, Unruhe, Übelkeit und Durchfall. Schlafstörungen können die
Beschwerden innerlich agitierter, schwerst depressiver Patienten verschlimmern und/oder zu Therapieabbrüchen führen. Hinzu kommen
Immunerkrankungen mit Fieber, Hautreaktionen, Vaskulitis, Pneumonitis, Hepatitis und Leukozytose oder Leukopenie. Nahezu jeder Dritte klagt über sexuelle
Funktionsstörungen (vgl. a-t 6 [1997], 71).15 Bei Verwendung gegen frühzeitige
Ejakulation5 wird eine Nebenwirkung zur (nicht zugelassenen) Indikation gemacht.
TZA besitzen Chinidin-ähnliche Effekte und ein Gefährdungspotential für Patienten, die durch koronare Herzkrankheit vorgeschädigt sind.
SSRI sollen die kardiale Reizleitung angeblich nicht beeinflussen. QT-Verlängerungen (a-t 11 [1996], 106) sind
jedoch nach Überdosis beschrieben sowie generalisierte Krampfanfälle.16 Bei kardial vorgeschädigten Patienten gilt auch für SSRI
besondere Vorsicht: Aus Sicherheitsbedenken wegen kardiovaskulärer Störwirkungen unterband die amerikanische Arzneimittelbehörde FDA
Werbung für Sertralin zur Anwendung bei Herzinfarktpatienten mit Depression. Nach Sichtung der Literatur der letzten zehn Jahre folgern amerikanische
Psychiater, dass "wenig über die Wirksamkeit der SSRI bei älteren Patienten und noch weniger bei Herzkranken bekannt"
ist.17
Nach Auswertung von sechs Selbsttötungen durch Überdosis von Citalopram raten schwedische Gerichtsmediziner und Pharmakologen bei Verordnung
des SSRI an Suizidgefährdete zur gleichen Vorsicht wie bei TZA.18 Tod durch Überdosis kommt unter TZA zwar häufiger vor als unter
SSRI. Dafür finden SSRI-Verwender öfter andere Wege für den Suizid.19 Eine auffällige Häufung von Suiziden bei Depressiven,
die Fluoxetin einnehmen, wird damit erklärt, dass gerade besonders Gefährdete diesen SSRI erhalten,19 eine Annahme, für die ein Beleg
aussteht.
WECHSELWIRKUNGEN: TZA-typische Interaktionen sind vor allem Zunahme anticholinerger Effekte von Anticholinergika, Antiallergika u.a.,
verstärkte bzw. abgeschwächte Wirkung blutdrucksenkender Mittel und Blutdrucksteigerung in Verbindung mit Sympathomimetika sowie zunehmende
Sedierung durch Hypnotika/Sedativa und Alkohol. Bei gleichzeitiger Behandlung mit Antiarrhythmika oder Herzglykosiden besteht Gefahr von Erregungsleitungs- und
Herzrhythmusstörungen.
Kombination von SSRI oder TZA mit MAO-Hemmern ist wegen der Gefahr des mit Verwirrtheit, Manie, Unruhe, Muskelkrämpfen, Tremor, Schwitzen und Fieber
einhergehenden lebensbedrohlichen serotonergen Syndroms verboten (a-t 5 [1995], 55). Die gleichzeitige
Verwendung der Serotoninvorstufe L-Tryptophan (KALMA u.a.) ist ebenfalls kontraindiziert.
Sämtliche SSRI hemmen entgiftende Zytochromoxidase-P450 (CYP)-Enzymsysteme der Leber und des ZNS. CYP-Enzyme machen lipophile (fettlösliche)
Wirkstoffe wie Psychopharmaka wasserlöslich und für die Nieren ausscheidbar. Werden CYP-Enzyme blockiert, können sich die normalerweise im
Stoffwechsel entgifteten Substanzen im Organismus bis in den toxischen Bereich anreichern. Überdosierungen in Selbstmordabsicht - meist dienen hierzu
mehrere Arzneimittel - können somit Stärke und Dauer der Toxizität der Überdosis steigern.5
Fast alle SSRI hemmen das CYP2D6-System, vor allem Fluoxetin und Paroxetin, weniger ausgeprägt Citalopram und Sertralin. Sie erhöhen so die
Wirkspiegel gleichzeitig angewendeter TZA (Todesfall unter Fluoxetin/Amitriptylin beschrieben20), Neuroleptika, die viele schwerst depressive Patienten mit
psychotischer, z.B. wahnhafter Ausgestaltung ihrer Depression neben einem Antidepressivum erhalten (cave schwere extrapyramidale Symptome), Antiarrhythmika
einschließlich Phenytoin (ZENTROPIL u.a.), Betarezeptorenblocker u.a.5 Ohne die Fluoxetin-Spiegel zu erhöhen, soll Pindolol (VISKEN u.a.) das
Ansprechen auf den SSRI verbessern.21 Dieser Effekt könnte jedoch darauf beruhen, dass der Betablocker lediglich Störwirkungen des
Fluoxetin wie Unruhe mildert.
Fluvoxamin lässt den CYP2D6-Metabolismus nahezu unbeeinträchtigt, hemmt jedoch vorgeschaltete Enzymsysteme (vor allem CYP1A2 und CYP2C19)
und erhöht so die Plasmaspiegel gleichzeitig eingenommener tertiärer (nicht demethylierter) TZA wie Amitriptylin, Imipramin, Clomipramin u.a. sowie von
Clozapin (LEPONEX), Theophyllin (SOLOSIN u.a.) und Cumarin-Antikoagulantien. Auch Fluoxetin kann die Spiegel oraler Gerinnungshemmer erhöhen und
Quick-Werte erniedrigen.22 Dies erscheint bedeutsam, wenn SSRI wegen angeblich geringer kardialer Toxizität bei depressiven Patienten mit
begleitender koronarer Herzkrankheit verwendet werden. Fluvoxamin und Fluoxetin behindern die Verstoffwechselung von Diazepam (VALIUM u.a.) und Alprazolam
(TAFIL u.a.).
SSRI werden zum Teil selbst durch CYP-Enzyme metabolisiert. Fluoxetin, Fluvoxamin und Paroxetin blockieren daher ihren eigenen Abbau (Autoinhibition, Tabelle).
Einer Verdopplung der Dosis folgt dann keine Verdopplung, sondern eine Vervielfachung des Plasmaspiegels. Fluoxetin ist zudem wegen der extrem langen
Halbwertszeit des wirksamen Metaboliten von etwa 14 Tagen schlecht steuerbar. Bis zu vier Wochen nach Absetzen ist noch mit Interaktionen zu
rechnen.23 Wird die Einnahme kurzfristig unterbrochen, scheinen Entzugsbeschwerden allerdings seltener vorzukommen als beispielsweise nach Paroxetin
(Halbwertszeit 1 Tag, kein aktiver Metabolit).24
FAZIT: Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) wirken bei ambulanten Patienten ebenso gut wie trizyklische Antidepressiva (TZA). Bei schwerst
depressiven Personen fehlen jedoch oft die therapeutisch zweckmäßigen sedierenden Effekte (statt dessen erregende Störwirkungen mit
häufigen Schlafstörungen). Der Nutzen der bis dreifach teureren SSRI (vgl. Kasten) ist bei diesen Patienten anscheinend geringer als der von TZA und
unzureichend dokumentiert.
Oft dienen die selteneren anticholinergen Störwirkungen als Argument für einen angeblichen Vorteil der relativ neuen Wirkgruppe. Häufige SSRI-
typische Störwirkungen wie Unruhe, Schlafstörungen, Kopfschmerzen, Durchfall, beeinträchtigte Sexualität und Auslösung schwerer
Immunerkrankungen dürften jedoch für die Patienten mindestens ebenso belastend sein. TZA bleiben deshalb Mittel der Wahl. Bei kardial
vorgeschädigten Patienten ist auch mit SSRI Vorsicht geboten.
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