Aktuell sind ganz herausragende Erfolge der so genannten ORTHOKIN-Therapie gemeldet worden, wobei zwei große randomisierte
Studien bei Gonarthrose (Prof. KRAUSPE/Düsseldorf) sowie Ischialgie (Prof. KRÄMER/Bochum) erwähnt werden. Das erforderliche autologe
konditionierte Serum soll dabei zukünftig sogar in der eigenen Praxis im Biolabor hergestellt werden können. Was ist aus Ihrer Sicht von dieser - mir bisher
völlig unbekannten - Therapie zu halten? Was ist Wahrheit, was Dichtung? Vielen Dank für Ihre objektive Bewertung.
Dr. med. D. BAJER (Arzt f. Orthopädie, Rheumatol., Chirother., Sportmed.)
D-27404 Zeven
Interessenkonflikt: keiner
Bei ORTHOKIN handelt es sich um eine aus Eigenblut hergestellte "Individualrezeptur", die zur Behandlung von Arthrose und
Rückenschmerzen1 propagiert wird (vgl. a-t 2001; 32: 34). Das Blut wird den Patienten mit einer
Spezialspritze abgenommen, die oberflächenbehandelte Glasperlen enthält.2 Interaktion mit der Oberfläche der Glaskügelchen
während einer mehrstündigen Inkubationszeit soll die Blutmonozyten zu vermehrter Produktion des Interleukin-1-Rezeptorantagonisten (IL-1Ra)
anregen,2,3 einem körpereigenen Hemmstoff des entzündungsfördernden Interleukin-1 (IL-1). Interleukine gehören zu den Zytokinen,
einer großen Gruppe von Zellbotenstoffen, die eine wichtige Rolle in der Regulation von Entzündungsprozessen spielen. Das nach weiterer Aufbereitung
im Labor gewonnene Serum, das mit IL-1Ra angereichert sein soll, wird dem Patienten wieder gespritzt, z.B. in ein arthrotisches Gelenk.2 Das
Eigenblutpräparat darf nicht verwechselt werden mit dem seit 2002 bei rheumatoider Arthritis zugelassenen rekombinant hergestellten IL-1Ra Anakinra (KINERET; a-t 2002; 33: 49-
50).
Wir finden eine einzige Publikation zum Herstellungsprinzip von ORTHOKIN.3 Nach dieser Arbeit soll es in nichtantikoagulierten Blutproben von gesunden
Probanden zwischen 20 und 50 Jahren durch 24-stündige Inkubation in Gegenwart von Glasperlen, die mit Chromsulfat vorbehandelt wurden, zu einem
mittleren Anstieg des IL-1Ra von 73 pg/ml auf 10.254 pg/ml kommen. Zwei weitere als antientzündlich eingestufte Interleukine (IL-4 und IL-10) nehmen
geringfügig zu, IL-13 verändert sich nicht. Die entzündungsfördernden Zytokine Interleukin IL-1β und Tumornekrosefaktor α bleiben
unter der Nachweisgrenze. Wie viele Probanden an dem Versuch teilnehmen und wie viele Blutproben entnommen werden, erfährt man nicht. Im Methodenteil
heißt es lediglich, dass die Ergebnisse Mittelwerte plus Standardabweichungen von "zwei oder mehr Experimenten" darstellen. Es lässt sich
somit nicht hinreichend nachvollziehen, wie die Ergebnisse zu Stande gekommen sind.
Dass Immunzellen in vitro durch Kontakt mit Oberflächen zur Produktion von Zytokinen angeregt werden können, ist bekannt. In der Diagnostik
können sich bereits durch Aktivierung bei Kontakt mit Spritzenmaterial falsch hohe Zytokin-Konzentrationen ergeben. Auch die Gerinnung regt die Zellen zur
Zytokinproduktion an. Als aktivierender Faktor kommen im oben beschriebenen Experiment darüber hinaus auch Spuren der Chromverbindung in Betracht,
deren Entfernung von den Glasperlen unseres Erachtens unzureichend überprüft wird und die unter Umständen immunogen wirken kann. Eine wie
auch immer geartete Stimulation der Immunzellen zu vermehrter Zytokinproduktion in dem Versuch ist daher vorstellbar. Dass aber, wie die Autoren folgern, durch die
Methode ein mit antientzündlichen Zytokinen angereichertes Serum entsteht, das einen "therapeutischen Nutzen zur Behandlung verschiedener
entzündlicher und degenerativer Erkrankungen" besitzt,3 ist eine durch nichts bewiesene Behauptung. Es erscheint grotesk, dies aus der
Messung von sechs der etwa 100 (!) heute bekannten Zyto- und Chemokine ableiten zu wollen, die mit vielfältigen und redundanten (also überlappenden)
Wirkungen an der komplexen Regulation der Immunantwort beteiligt sind. Die Zusammensetzung eines nach dem "ORTHOKIN-Prinzip" hergestellten
Serums ist nicht bekannt, seine Effekte auf Entzündungsprozesse nicht vorhersagbar.
Nachvollziehbare Daten aus kontrollierten klinischen Studien zu Nutzen und Sicherheit von ORTHOKIN fehlen ebenfalls. Keine der beiden im Leserbrief genannten
randomisierten Studien bei Kreuzschmerzen bzw. Kniearthrose ist vollständig veröffentlicht. Sie sind somit nicht beurteilbar. Beim Studienleiter der
Kniearthrose-Studie4 fällt die Nähe zur Anbieterfirma Orthogen auf. Er arbeitet in einer Gemeinschaftspraxis mit dem Gründer von Orthogen
sowie mit zwei weiteren Ärzten zusammen, die auf der Orthogen-Homepage für ORTHOKIN werben.1,5 Uns liegt ein Schreiben6 vor, in
dem er - damals noch Oberarzt an der Orthopädischen Klinik der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf - quasi als externer Fachmann und mit
Briefkopf der Universität dem Geschäftsführer von Orthogen1 und Mitentwickler (!)7,8 von ORTHOKIN das Wirkprinzip des
Verfahrens erläutert und anpreist. Wir werten diesen Brief, dessen Zweck ja kaum die Aufklärung eines Erfinders über seine Erfindung sein
dürfte, als ein von vornherein für Dritte bestimmtes Gefälligkeitsschreiben. Dennoch behauptet der Studienleiter auf Nachfrage uns gegenüber,
dass bei den Autoren der Kniearthrose-Studie keine Interessenkonflikte bestünden.9
Orthogen stellt neuerdings interessierten Ärzten ein Labor zur "Aufbereitung" des Eigenbluts kostenlos in die Praxis. Die Firma verdient an den
Spezialspritzen, die jeweils angefordert werden müssen. Von den 600 bis 1.000 €, die die Patienten pro Behandlungszyklus selbst bezahlen müssen,
erhalten Firma und Arzt je etwa die Hälfte. In Deutschland sollen bereits etwa 300 Orthopäden im Geschäft sein.10
Als "Individualrezeptur" unterliegt ORTHOKIN keiner behördlichen Prüfung auf Wirksamkeit und Unbedenklichkeit. Auch eine
Qualitätskontrolle durch die Überwachungsbehörde findet bei Arzneimitteln, die wie ORTHOKIN in einer ärztlichen Praxis hergestellt und
angewendet werden, faktisch nicht statt. Aufgrund unserer Intervention bei der zuständigen Landesbehörde musste der Anbieter die Behauptung:
"ORTHOKIN ist zugelassen in der EU und Australien"11, mit der eine nicht existierende behördliche Autorisierung vorgetäuscht wurde,
von seinen Internetseiten streichen.12 Intraartikuläre Injektionen bergen grundsätzlich das Risiko entzündlicher Reaktionen, selten auch
schwerwiegender bakterieller Infektionen - bei einem Produkt ohne nachgewiesenen Nutzen nicht zu rechtfertigende "Luxus"-Risiken (a-t 1996; Nr. 4: 35-8). Bei anderen Eigenblutbehandlungen ist Übertragung von Hepatitis- und HI-Viren beschrieben
(a-t 1991; Nr. 6: 56; 1996; Nr. 6: 61 und 2000; 31: 71).13
ORTHOKIN ist ein Eigenblutpräparat, das zur Behandlung von Arthrose
und Rückenschmerzen propagiert wird.
Seriöse wissenschaftliche Daten, anhand derer sich die behauptete Wirkweise
von ORTHOKIN nachvollziehen lässt, gibt es nicht.
Die Zusammensetzung eines nach dem ORTHOKIN-Prinzip aufbereiteten Serums ist
nicht bekannt, seine klinischen Effekte sind nicht vorhersagbar.
Nachvollziehbare kontrollierte klinische Daten zu Nutzen und Sicherheit
fehlen.
Risiken, auch das Risiko schwerwiegender Infektionen, sind nicht
auszuschließen.
Wir erachten die bis zu 1.000 € teure Individualrezeptur, die faktisch keiner
behördlichen Kontrolle auf Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit unterliegt, als Scharlatanerie.
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