Stationär aufgenommene Patienten entwickeln häufig eine tiefe Beinvenenthrombose (BVT). Dies wird jedoch oft nicht erkannt, da bei weitem
nicht alle tiefen BVT klinisch auffällig werden. Die Gefahr stummer BVT liegt in der Auslösung lebensbedrohlicher, unter Umständen tödlicher
Lungenembolien. 10% aller Todesfälle in einem Krankenhaus lassen sich in einer Beobachtungsstudie auf schwere Lungenembolien
zurückführen.1 Das Risiko thromboembolischer Komplikationen hängt von Grunderkrankung, Ausmaß und Art des operativen Eingriffs,
Immobilisation und eventuell vorangegangenen thromboembolischen Ereignissen ab (s. Kasten).2
MÖGLICHKEITEN DER PROPHYLAXE: Mehrere Methoden zur Thromboembolieprophylaxe Gefährdeter stehen zur Wahl:
- Mechanische Methoden wie z.B. elastische Kompressionsstrümpfe: Über deren Wirksamkeit gibt es nur spärliche Daten. Nach einer
Metaanalyse läßt sich die Häufigkeit tiefer BVT nach allgemeinchirurgischen Eingriffen von 25% auf 9% senken. Durch gleichzeitige Anwendung von
Heparin sinkt die Thromboserate auf 6%. Auf eine gute Anpassung der Strümpfe ist zu achten eine Bedingung, die in der Praxis häufig nicht
erreicht wird. Ob sich mit Kompressionsstrümpfen die Letalität bzw. Rate der Lungenembolien verringern läßt, bleibt offen.
- Die niedrig dosierte ("Low-dose") Heparinisierung mit zweimal 5.000 I.E. bzw. bei einem Körpergewicht über 65 kg mit zweimal 7.500 I.E.
täglich (a-t 7 [1993], 68): Unfraktioniertes Heparin (LIQUEMIN N u.a.) subkutan gilt als
Standardprophylaxe nach chirurgischen Eingriffen oder bei schweren internistischen Erkrankungen. Die Low-dose-Heparinisierung senkt die Häufigkeit nicht
nur tiefer BVT, sondern auch schwerer tödlicher Lungenembolien.3,4 Niedermolekulare Heparine (FRAXIPARIN u.a.) wirken in der
Allgemeinchirurgie nicht besser als unfraktioniertes Heparin. Bei großen orthopädischen Eingriffen (Hüft- und Kniechirurgie) zeichnet sich allerdings ein
Vorteil ab.5 Hier sinkt die Thrombosehäufigkeit durch unfraktioniertes Heparin von 40% bis 80% auf 25% und durch niedermolekulares Heparin auf
15%. Die Beimischung von Dihydroergotamin (EMBOLEX NM) birgt das Risiko vasospastischer Komplikationen, ohne die Effektivität zu erhöhen (a-t 11
[1988], 102).2,5
- Dextran (MACRODEX) wirkt über mehrere Mechanismen antithrombotisch: Hämodilution, Interferenz mit der Fibrinpolymerisation und über
einen antiaggregatorischen Effekt auf Thrombozyten ("Coating"). Der klinische Nutzen zur Prävention der tiefen BVT ist beschränkt. In einer
Metaanalyse nehmen tiefe BVT lediglich von 25% auf 17% ab. Lungenembolien scheinen sich hingegen besser verhindern zu lassen, möglicherweise infolge
Förderung der Spontanlyse bestehender Thrombosen. Eingeschränkt wird der Nutzen von Dextran durch häufige allergische Störwirkungen, die
jedoch durch Vorgabe von Dextran 1 (PROMIT) gemindert werden (a-t 9 [1985], 73).
- Der Wert von Azetylsalizylsäure (ASS, ASPIRIN u.a.) zur Prävention tiefer BVT war lange umstritten (s. auch a-t 12 [1988], 109). Die Rate
tiefer BVT sinkt von 34% auf 25%, die von Lungenembolien von 3% auf 1% (vgl. a-t 2 [1994], 18).6 ASS kann
erwogen werden, wenn Kontraindikationen gegenüber anderen Antikoagulantien bestehen.
- Cumarinderivate wie Phenprocoumon (MARCUMAR u.a.) werden wegen der schwierigen Steuerbarkeit der Gerinnungshemmung und des erhöhten
Blutungsrisikos selten zur postoperativen Thromboembolie-Prophylaxe verwendet. Nach einer aktuellen Studie besitzt niedrig dosiertes Warfarin (COUMADIN; INR
2,0 bis 3,0, Quick ca 25% bis 35%) bei Patienten mit Hüft- und Knieoperationen ähnliche Wirksamkeit wie niedermolekulares Heparin. Cumarinderivate
kommen für diese Hochrisikopatienten daher in Frage, falls Heparine kontraindiziert sind.7 Fixe Minidosen von 1 bis 2 mg täglich führten
demgegenüber zu enttäuschenden Ergebnissen.8,9 Ob sie für Patienten mit geringerem Risiko ausreichen, bleibt unklar.
NUTZEN DER LOW-DOSE-HEPARINISIERUNG: Für Patienten mit mittlerem oder hohem Thromboembolierisiko ist die Prophylaxe mit niedrig
dosiertem Heparin unumstritten. Kontrovers wird die Notwendigkeit der vorbeugenden Anwendung für die Niedrigrisikogruppe beurteilt. Für Personen, die
kleinen chirurgischen Eingriffen unterzogen werden (unter 30 Minuten), bzw. für jüngere Patienten (unter 40 Jahre) ohne zusätzliche Risikofaktoren
nach größeren allgemeinchirurgischen Eingriffen gilt die Thromboseprophylaxe mit angepaßten Kompressionsstrümpfen als ausreichend. Für
Personen, die aufgrund von Verletzungen der unteren Extremitäten mit einem sogenannten Liegegips immobilisiert werden, wird zunehmend auch zur
ambulanten Low-dose-Heparinisierung geraten, da die Patienten möglicherweise ein mittleres Thromboserisiko eingehen. Zwei aktuelle Studien belegen zwar
eine deutliche Verminderung thrombotischer Befunde in den Beinvenen durch Low-dose-Heparinisierung mit niedermolekularem Heparin.5,10 Klinische
Risiken wie manifeste Lungenembolien waren jedoch nicht aufgetreten. Darüber hinaus bestanden bei den meisten Patienten, bei denen venöse
Thrombosen auftraten, zusätzliche Risikofaktoren (Alter über 40 Jahre, Kontrazeptiva, Nikotin, Übergewicht). Nach Frakturen der unteren
Extremität waren Thrombosen im Bereich der verletzten Extremität häufiger als nach Weichteilverletzungen. Diese Befunde sind zurückhaltend
zu interpretieren. Hinreichende klinische Daten fehlen, die für diese Patientengruppe die Relevanz der thrombotischen Ereignisse für den
Krankheitsverlauf oder eine Senkung der Lungenembolierate belegen.
RISIKEN DER LOW-DOSE-HEPARINISIERUNG: Neben dem geringfügig erhöhten Blutungsrisiko liegt die wesentliche Gefahr der
Heparinisierung in der oft unterschätzten Häufigkeit der Heparin-induzierten Thrombozytopenie (HIT; a-t
3 [1994], 32). Die immunogene schwere Verlaufsform (HIT Typ II) entwickelt sich bei bis zu 5% der Patienten unter längerfristiger
Heparinisierung.11 Sie entsteht bei nicht vorbehandelten Personen meist zwischen dem 6. und 14. Tag, bei mit Heparin oder ähnlichen
Mucopolysacchariden (z.B. ARTEPARON) vorbehandelten jedoch bereits ab dem 2. Tag. Es kommt sowohl zu einer Instabilität der Thrombozyten mit
venösen und arteriellen Thrombosen ("white clots") als auch zu einem Abfall der Thrombozyten infolge Verbrauch oder Lyse. Wird der
Zusammenhang zwischen thromboembolischen Ereignissen und Heparinisierung verkannt und in Annahme eines Therapieversagens die Heparindosis erhöht,
kann die arzneibedingte Erkrankung verstärkt werden. Deshalb ist für alle Patienten, die länger als eine Woche Heparin erhalten, die mindestens
wöchentliche Kontrolle der Thrombozytenzahlen zwingend erforderlich. Wurde bereits mit Heparin vor-behandelt, erscheinen Kontrollen in der ersten Woche
notwendig. Die HIT Typ II wurde bisher häufiger in Verbindung mit unfraktionierten Heparinen beschrieben. Mit zunehmendem Gebrauch niedermolekularer
Präparate ist jedoch zu erwarten, daß die Zahl der Beobachtungen auch für diese zunimmt, da Kreuzreaktionen häufig sind. Erneute
Thrombozytenabfälle nach Erholung der Plättchenzahl können durch das Spülen von Venenkathetern mit heparinhaltigen Lösungen oder
durch Heparinzusatz in Blutprodukten, z.B. Gerinnungsfaktorkonzentraten (BERIPLEX HS u.a.), verursacht werden.12
Für Heparine läßt sich das Risiko der Übertragung der bovinen spongioformen Enzephalopathie (BSE) nicht ausschließen.
Ursprungsmaterial für die Heparingewinnung sind Lungengewebe und Darmmukosa, die überwiegend vom Schwein, aber auch vom Rind gewonnen
werden. Beide Ausgangsmaterialien sind reich an lymphatischem Gewebe, das das infektiöse Agens der BSE lange Zeit vor Eindringen in das Gehirn zu
beherbergen scheint (a-t 10 [1992], 101).13 Nicht nur das Rind, sondern auch das Schwein ist mit BSE
infizierbar. Da Heparin parenteral angewendet wird, besteht theoretisch die Gefahr der Inokulation des infektiösen Agens. Dieses theoretische Risiko stellt nicht
die Indikation bei mittlerem und hohem Thromboembolierisiko in Frage, sollte aber bei niedrigem Risiko, insbesondere bei jungen Patienten, berücksichtigt
werden (vgl. a-t 1 [1991], 2).
Die rationale Indikationsstellung bei der Heparinisierung erfordert:
- die Abwägung des Thrombose- bzw. Embolierisikos im Einzelfall (Umfang des Traumas, Fraktur, zusätzliche Risikofaktoren versus Heparinrisiko),
- die regelmäßige, mindestens wöchentliche Kontrolle der Thrombozytenzahlen,
- die Ausschöpfung alternativer, auch nicht-medikamentöser Präventionsmaßnahmen,
- die kürzeste Behandlungsdauer.
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RISIKO/NUTZEN-ABWÄGUNG: Geht man davon aus, daß 1% bis 5% heparinisierter Patienten eine immunogene Thrombozytopenie (HIT Typ II)
entwikkeln, deren klinisches Korrelat ein thromboembolisches Ereignis ist, dann wird das Risiko/Nutzen-Ver-hältnis der Heparinisierung negativ, wenn das
krankheits- oder unfallbedingte Thromboserisiko unter 5% liegt. 10% bis 30% der an einer HIT Typ II erkrankten Patienten versterben.14,15 Die Heparinisierung wird
deshalb zum überwiegenden lebensbedrohlichen Risiko, wenn die krankheits- oder unfallbedingte Rate tödlicher Lungenembolien unter 0,1% bis 0,3%
liegt.
Aus solchen Überlegungen läßt sich ableiten, daß bei Patienten mit Distorsionen oder Weichteilverletzungen ohne Fraktur das Risiko einer
HIT-Typ-II-bedingten thromboembolischen Erkrankung im Einzelfall höher sein kann als das Risiko einer Thromboembolie infolge fehlender Heparinisierung,
auch wenn die Verletzungen mit einem Gips ruhiggestellt werden. Die Forderung, jeder Patient müsse schon aus haftungsrechtlichen Gründen bei
Ruhigstellung mit Gips heparinisiert werden, ist somit unzutreffend. Solche Empfehlungen scheinen vornehmlich auf die Verordnungssteigerung durch Panikmache
gerichtet zu sein.
Grundsätzlich falsch ist die Annahme, bei der Low-dose-Heparinisierung handele es sich um eine besonders risikoarme Behandlungsform.
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