"Unerwartet" seien die vermehrten Herzinfarkte und Schlaganfälle unter Rofecoxib (VIOXX) in der APPROVe**-Studie (a-t 2004; 35: 116) gekommen, betont der Vorstand des US-Konzerns Merck & Co., Raymond GILMARTIN,
anlässlich der Marktrücknahme des Cox-2-Hemmers im September 2004.1 Dem Vorwurf der Datenunterdrückung tritt die Firma hierzulande
mit ganzseitigen Anzeigen entgegen: "MSD hat Behörden, Ärzte und Apotheker im Interesse des Patientenwohls stets umgehend
informiert."2 Und nicht nur das: Die Firma verklagt Zeitungs-, Radio- und Fernsehredaktionen, die über die Datenmanipulationen in Verbindung mit
Rofecoxib oder über Hochrechnungen zur Zahl der möglicherweise Geschädigten berichtet haben.
Firmeninterne E-Mails, die das Wall Street Journal am 1. November veröffentlicht, bestätigen jedoch jetzt die schlimmsten Befürchtungen. Sie
dokumentieren nicht nur, dass die Firma bereits in der zweiten Hälfte der 90er Jahre ein kardiovaskuläres Schädigungspotenzial ihres Cox-2-Hemmers
befürchtet hat, sondern geben auch einen erschreckenden Einblick in die Desinformationsstrategien zur Zerstreuung dieses Verdachts in der
Öffentlichkeit. Bereits seit 1996 wird intern diskutiert, wie Studien angelegt sein müssten, damit das kardiovaskuläre Risiko von Rofecoxib
möglichst verborgen bleibt. Die heutige Vizepräsidentin für klinische Forschung sieht Merck & Co. im Februar 1997 in einer ausweglosen Situation
("No-win situation"): Werde Rofecoxib mit Azetylsalizylsäure (ASS; ASPIRIN u.a.) kombiniert, könne das Risiko gastrointestinaler Probleme
steigen, ohne ASS bereite "die Möglichkeit erhöhter kardiovaskulärer Ereignisse große Sorge". Ihr Lösungsvorschlag: Patienten
mit kardiovaskulären Problemen sollten von den Studien ausgeschlossen werden, damit die Rate kardiovaskulärer Ereignisse zwischen Rofecoxib-
Patienten und den anderen "nicht auffällt". "Wenn die Patienten in der VIOXX-Gruppe nicht zusätzlich ASS erhalten, wird es mehr
thrombotische Ereignisse geben" und das Coxib abstürzen ("kill the drug"), ahnt ein Firmenmitarbeiter.1
Als drei Jahre später die vorläufigen Ergebnisse der VIGOR**-Studie mit dem deutlichen Hinweis auf Zunahme von Herzinfarkten unter Rofecoxib im
Vergleich zu Naproxen (PROXEN u.a.) bekannt werden, kommentiert der Forschungsleiter der Firma intern: Die kardiovaskulären Ereignisse "sind
eindeutig vorhanden" und "wie wir befürchtet haben, sind sie durch den Wirkmechanismus bedingt".1
Nach außen leugnet und verschleiert Merck & Co. die Hinweise auf die kardiovaskuläre Schädlichkeit des Cox-2-Hemmers. Das Wall Street Journal
zitiert aus einem 16-seitigen Trainingsdokument ("DODGE" [Trick, Winkelzug]), mit dem offenbar Pharmareferenten geschult werden, Negativargumenten
zu Rofecoxib zu begegnen.1 Forscher und Referenten werden eingeschüchtert nach dem Motto: "Sie achten besser darauf, was Sie
sagen".1 In der Publikation der VIGOR-Studie,3 an der Firmenmitarbeiter beteiligt sind, werden die vollständigen Risikodaten
unterdrückt (a-t 2001; 32: 87-8). Den Herausgeber einer unabhängigen spanischen Arzneimittelzeitschrift
verklagt Merck & Co., weil dieser die "so genannten Vorteile von Celecoxib und Rofecoxib" als "wissenschaftlichen Betrug" bezeichnet hat (a-t 2004; 35: 16). Das Verfahren verliert die Firma. Der Versuch, Autoren einer Fallkontrollstudie, die auf ein erhöhtes
Herzinfarktrisiko unter Rofecoxib hinweist, zur Unterdrückung eines Teils ihrer Negativdaten zu bewegen, scheitert ebenfalls.1
In Presseverlautbarungen, Artikeln medizinischer Fachzeitschriften und auf Symposien wird hartnäckig die Botschaft verbreitet, dass nicht Rofecoxib
kardiotoxisch, sondern Naproxen, das Vergleichs-NSAR in VIGOR, kardioprotektiv sei.4 Dies, obgleich offenbar auch firmenintern erkannt wurde,1
dass selbst unter der unbewiesenen Annahme einer dem ASS vergleichbaren thrombozytenaggregationshemmenden Wirksamkeit von Naproxen die Differenz zu
Rofecoxib - Verfünffachung des Herzinfarktrisikos, Verdoppelung von kardiovaskulären Ereignissen insgesamt5 - nicht erklärbar
ist.6 ASS und andere Thrombozytenaggregationshemmer senken das Herzinfarktrisiko lediglich um ein Drittel, schwere Gefäßkomplikationen
insgesamt um ein Viertel.7 Dennoch und trotz Verbots entsprechender Werbeaussagen durch die FDA (a-t 2001;
32: 102-3) hält die Firma bis August 2004 an dieser Anfang 2000 entwickelten Argumentation fest. Nach dem vorzeitigen Stopp der APPROVe-Studie
bricht diese Sprachregelung endgültig ein, da Herzinfarkte und Schlaganfälle unter Rofecoxib hier häufiger sind als unter Plazebo. Mit
Veröffentlichung der firmeninternen Diskussion im Wall Street Journal erweist sie sich jetzt als gezielte und systematische Desinformation.
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Vorversion am 2. Nov. 2004 als blitz-a-t veröffentlicht. |
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APPROVe = Adenomatous Polyp Prevention on VIOXX
VIGOR = VIOXX Gastrointestinal Outcome Research. |
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