* Teil II mit unerwünschten Opioidwirkungen, alternativen Opioiden und Applikationswegen, Koanalgetika und
Kostenübersicht folgt.
70% bis 90% der Patienten mit fortgeschrittener Krebserkrankung leiden unter chronischen Schmerzen.1 Tumorschmerzen lassen sich erfolgreich
behandeln, auch in der letzten Lebensphase. Unter spezialisierter Betreuung erweisen sich nur bei 5% bis 10% der Patienten die Schmerzen als schwer
beherrschbar.2
Nach der Definition der internationalen Gesellschaft zum Studium des Schmerzes ist Schmerz ein unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis, das mit aktueller
oder potenzieller Gewebsschädigung verbunden ist oder mit Begriffen einer solchen Schädigung beschrieben wird3 (zum Beispiel drückend,
schneidend, stechend). Nozizeptiv wird der Schmerz genannt, bei dem man davon ausgeht, dass er auf fortdauernder Gewebsschädigung beruht.
Neuropathischer Schmerz wird auf Schädigung oder Dysfunktion des peripheren oder zentralen Nervensystems selbst
zurückgeführt.1,3
Viele Krebspatienten haben mehrere Schmerzsyndrome gleichzeitig. Die Mehrzahl beruht auf direkter Einwirkung des Tumors oder der Metastasen. In einer
prospektiven Studie an einem Kölner Schmerzzentrum betrifft dies 85% der Patienten.4 Unter den nozizeptiven somatischen tumorbedingten
Schmerzen sind die Knochenschmerzen die häufigsten.1 Durch die Tumortherapie verursachte chronische Schmerzsyndrome sind meist
neuropathisch, z.B. bedingt durch Plexusfibrose nach Bestrahlung oder Polyneuropathie nach Chemotherapie.1 In der Kölner Studie finden sich bei
17% der Patienten therapiebedingte Schmerzen.4
Schmerzen sind nicht nur eine subjektive Empfindung. Ein akutes schmerzhaftes Trauma löst - als Anpassung des Organismus an eine kurzzeitige Bedrohung -
eine neuroendokrine Stressreaktion aus mit Sympathikusaktivierung und Ausschüttung von Kortisol. Hält der Schmerz an, kann eine destruktive
Stressreaktion resultieren, die mit Müdigkeit, gedrückter Stimmung, Schlafstörung, Appetitlosigkeit, Konzentrationsstörungen u.a. einhergeht.
Die Furcht vor unbeherrschbaren Schmerzen stellt dabei ihrerseits einen bedeutenden Stressfaktor dar.5 Es gibt Hinweise, dass unbehandelte
Tumorschmerzen die Lebenserwartung der Patienten verkürzen.6
Trotz der heute verfügbaren wirksamen Therapieverfahren ist die Behandlung von Tumorschmerzen in der Praxis häufig unzureichend. Vor allem
Wissenslücken sowie falsche Vorstellungen und unbegründete Befürchtungen auf Seiten der Ärzte wie der betroffenen Patienten und ihrer
Familien,2 darunter besonders die unbegründete Furcht vor Abhängigkeit von Opioiden,7 behindern die erfolgreiche
Schmerzbehandlung. Auch die derzeitigen Versorgungsstrukturen gelten als unzureichend für eine optimale Palliativtherapie.8
SCHMERZERFASSUNG: Effektive Schmerzbehandlung setzt eine genaue Erfassung voraus. Der beste "Sachverständige" seines
Schmerzes ist der Patient selbst. Medizinisches Personal soll den Schweregrad eher unterschätzen. Die Differenz zur Selbsteinschätzung nimmt mit der
Schmerzstärke zu. Angehörige neigen dagegen zur Überschätzung.2
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfiehlt, Tumorpatienten gezielt auf Schmerzen anzusprechen und sich nicht auf spontane Äußerungen zu
verlassen.9 Die eingehende Anamnese soll Aufschluss geben über Lokalisation, Ausstrahlung, Qualität (z.B. drückend, brennend) und
Intensität des Schmerzes, den Schmerztyp, seine Ursachen, den zeitlichen Verlauf, schmerzlindernde oder -verstärkende Faktoren, das durch die
Schmerzen verursachte Leiden, relevante psychische Beeinträchtigungen wie Angst oder Depression sowie die bisherige Schmerztherapie. Für die
Erfassung der Intensität wird die Verwendung eines einfachen Messinstruments empfohlen, z.B. eine vierstufige verbale deskriptive Schmerzskala: kein
Schmerz, leichter, mäßiger oder starker Schmerz. Alternativ kann z.B. eine numerische Rangskala verwendet werden, bei der die Patienten die
Schmerzstärke einstufen zwischen 0 = kein Schmerz und 10 = maximal vorstellbarer Schmerz. Bei der visuellen Analogskala, einer 10 cm langen Line zwischen
0 mm = kein Schmerz und 100 mm = maximal vorstellbarer Schmerz, entspricht nach Studien ein Punktwert unter 30 mm leichten Schmerzen, ein Wert zwischen 31
und 54 mm mäßigen und einer darüber starken Schmerzen.2
Wichtig ist, die Schmerzen und die Wirksamkeit der Therapie regelmäßig zu erfassen. Die Häufigkeit hängt von den individuellen
Umständen ab. Wenn Schmerzen schwer beherrschbar sind, gilt es als hilfreich, dass der Patient die Intensität mit Hilfe einer einfachen Methode mehrmals
täglich selbst erfasst.2 Dazu sind einfache Schmerztagebücher gut geeignet.
Diagnostische Maßnahmen über Anamnese und körperliche Untersuchung hinaus sollen insbesondere in der letzten Lebensphase auf solche
beschränkt werden, von deren Ergebnis ein deutlicher Einfluss auf das therapeutische Vorgehen erwartet wird.2
PRINZIPIEN DER TUMORSCHMERZTHERAPIE: Als wichtigstes Instrumentarium gilt die symptomatische pharmakologische Therapie nach dem
Stufenschema der WHO.4,9 Es wurde entwickelt, um durch Gebrauch einer begrenzten Zahl bewährter Analgetika unter Beachtung
einfacher Regeln ("by the ladder, by the mouth, by the clock" - also abgestuft, per os und nach der Uhr) die Behandlung von Tumorschmerzen weltweit zu
verbessern.10
Je nach Ausprägung der Schmerzen werden auf der ersten Stufe Nichtopioidanalgetika wie Parazetamol (BEN-U-RON u.a.) oder nichtsteroidale Antirheumatika
(NSAR) gewählt, auf der zweiten Stufe schwach wirksame Opioide wie Kodein (CODI OPT; in TALVOSILEN FORTE u.a.) und auf der dritten Stufe bei
mäßigen bis starken Schmerzen stark wirksame Opioide wie Morphin (MST MUNDIPHARMA u.a.). Auf allen Stufen können auch Koanalgetika wie
trizyklische Antidepressiva verwendet werden. Die Stufe, mit der begonnen wird, richtet sich nach der Intensität der Schmerzen.2
Die Schmerzmittel sollen möglichst per os eingenommen werden. Chronische Tumorschmerzen sind in der Regel kontinuierlich andauernde Schmerzen. In
diesem Fall müssen auch die Schmerzmittel regelmäßig "nach der Uhr" eingenommen werden, um eine gleichmäßige Analgesie
zu erreichen.2 Bis zu zwei Drittel der Patienten mit ansonsten gut eingestellten chronischen Schmerzen haben allerdings vorübergehende
Schmerzspitzen, so genannte Durchbruchschmerzen.1 Sie benötigen zusätzlich zur regulären, möglichst langwirksamen
Basismedikation eine kurzwirksame Medikation, die im Bedarfsfall eingenommen wird ("Rescue-Dosis").
Neben der rein symptomatischen Therapie können immer auch Interventionen erforderlich oder hilfreich sein, die auf die Schmerzursachen gerichtet sind, wie
zum Beispiel Strahlentherapie bei Schmerzen wegen Knochenmetastasen.
In den bis vor kurzem ausschließlich unkontrollierten Evaluationsstudien hat sich das WHO-Stufenschema als nützlich erwiesen mit
adäquater Schmerzlinderung bei 88% der Patienten in der größten4 dieser Untersuchungen.10 In einer ersten randomisierten Studie
mit 100 Patienten, die an unheilbar fortgeschrittenem Krebs erkrankt sind und unter leichten bis mäßigen Schmerzen leiden - starke Schmerzen sind
Ausschlusskriterium -, erweist sich jetzt der sofortige Beginn mit einem stark wirksamen Opioid dem Vorgehen nach WHO-Schema hinsichtlich der Schmerzlinderung
als überlegen, ohne dass schwere Nebenwirkungen zunehmen.11 Die Studie bekräftigt das auch andernorts geäußerte Unbehagen
mit den Mitteln der Stufe 1 und 2 in der Tumorschmerztherapie. Hier ist dringend weitere Forschung erforderlich. Die Evidenz reicht unseres Erachtens jedoch nicht
aus, das Stufenschema zu verlassen. Es ist aber auch aufgrund dieser Ergebnisse zu empfehlen, bei gegebener Indikation (mäßige bis starke Schmerzen)
frühzeitig auf ein stark wirksames Opioid zu wechseln.
STUFE 1 BEI LEICHTEN SCHMERZEN: Zur Therapie leichter Schmerzen werden nach WHO-Stufenschema Parazetamol oder NSAR
empfohlen.2,9 Die Auswahl richtet sich nach der individuellen Nutzen-Risikoabwägung.
Randomisierte kontrollierte Studien, die einen Nutzen von Nichtopioidanalgetika bei Tumorschmerzen belegen, sind spärlich, klein und mit einer Dauer von
höchstens mehreren Wochen sehr kurz. Oft wird nur eine Einzeldosis geprüft.12 Parazetamol gilt in empfohlenen Dosierungen - vier- bis
sechsstündlich 0,5 g bis 1 g, maximal 4 g pro Tag - als nebenwirkungsarm und sicher. Die Höchstdosierungen dürfen aber nicht überschritten
werden, da Parazetamol andernfalls lebensbedrohliches Leberversagen verursachen kann. Die Spanne zwischen maximaler empfohlener (3-4 g/Tag) und minimaler
toxischer (6 g) Dosis bei Gesunden ist relativ gering. Die Schwellendosis für eine hepatotoxische Wirkung kann bei Leberfunktionsstörung, Alkoholismus
oder gleichzeitiger Einnahme von Cytochrom-P(CYP)-450-induzierenden Arzneimitteln wie Phenobarbital (LUMINAL u.a.) oder in Einzelfällen auch bei
Langzeiteinnahme sogar im empfohlenen Bereich liegen.13 Retardpräparate zur Verlängerung des Dosisintervalls bei Dauerschmerzen
fehlen.
NSAR werden auf Grund der klinischen Erfahrung besonders bei Schmerzen empfohlen, die durch Knochenmetastasen oder Weichteilinfiltration bedingt
sind.2,9,14 Wirkvorteile einzelner Mittel sind nicht gesichert.12
Die Anwendung von NSAR ist mit einem relativ hohen Komplikationsrisiko behaftet, in erster Linie Magen-Darmschäden und Nierenfunktionsstörungen.
Schwere Magen-Darm-Schäden wie Blutung betreffen 1% der Anwender bei Einnahme über ein Jahr. Die Sterblichkeit von Patienten, die wegen NSAR-
bedingter oberer Magen-Darm-Blutung eingewiesen werden, liegt bei 5% bis 10%.15 NSAR unterscheiden sich in ihrer gastrointestinalen
Verträglichkeit. Ibuprofen (IBUPROFEN PB u.a.) und Diclofenac (VOLTAREN u.a.) schneiden besser ab als beispielsweise Piroxicam (FELDEN
u.a.).16,17 Sie sind u.E. Mittel der Wahl auch bei Tumorschmerzen. Mit retardiertem Diclofenac und Ibuprofen sind Dosisintervalle von 8-24 Stunden
möglich: z.B. ein- bis zweimal 75 mg DICLOFENAC SANDOZ SL Kapseln oder zwei- bis dreimal 800 mg JENAPROFEN RET. pro Tag. Die genannten
Präparate enthalten sondengängige Retardpellets. Azetylsalizylsäure (ASPIRIN u.a.) ist in der zur Tumorschmerzbehandlung benötigten
Dosierung (4-6 g/Tag) schlecht verträglich2 und erscheint daher weniger geeignet.
Cox-2-Hemmer wie Celecoxib (CELEBREX) oder Valdecoxib (BEXTRA) besitzen gegenüber herkömmlichen NSAR keinen Sicherheitsvorteil (a-t 2001; 32: 87-8 und 2004; 35: 125-6) - im Gegenteil: Wegen
auffälliger kardiovaskulärer Toxizität (Herzinfarkt, Hirninsult u.a.) sowie lebensbedrohlicher Hautschädigung (LYELL-Syndrom u.a.) sollten sie
nicht mehr verwendet werden.
Für Patienten mit hohem Risiko NSAR-bedingter gastrointestinaler Komplikationen, etwa wegen peptischer Ulzera in der Vorgeschichte oder bei gleichzeitiger
Einnahme von Kortikosteroiden oder Antikoagulanzien, wird ein prophylaktischer Magenschutz empfohlen.2 Am besten geprüft, aber schlecht
verträglich, ist Misoprostol (CYTOTEC; 3 x 200 µg pro Tag). Üblicherweise wird Omeprazol (ANTRA u.a.; täglich 20 mg) verwendet (a-t 2000; 31: 91-2 und 97).
Metamizol (NOVALGIN u.a.; bis viermal täglich 1 g), das wegen des hohen Agranulozytoserisikos in Ländern wie den USA seit langem nicht mehr
im Handel ist und auch in Schweden nach kurzer Wiedereinführung 1999 erneut verboten wurde, erachten wir auch wegen anderer Immunerkrankungen (a-t 1993; Nr. 11: 125-6) unter den nichtopioiden Analgetika als Mittel der letzten Reserve bei Tumorschmerzen. Die
WHO-Leitlinie sieht Metamizol nicht vor.9 Nach den besten verfügbaren epidemiologischen Daten,18 einer Auswertung der bei der
schwedischen Arzneimittelbehörde erfassten Berichte, die auf die schwedischen Verkaufszahlen bezogen werden, liegt die Inzidenz einer Agranulozytose bei
mindestens 1 : 1.500 Metamizolverordnungen zur Kurzzeittherapie von Schmerzen.19 Die Sterblichkeit der medikamentenbedingten Agranulozytosen wird
heutzutage mit 5% bis 10% angegeben.20
STUFE 2 BEI LEICHTEN BIS MÄSSIGEN SCHMERZEN: Reicht ein Nichtopioid allein nicht aus, wird ein Opioid geringer Wirkstärke mit einem
Nichtopioid kombiniert.2,9,14 Unter den verfügbaren von der WHO empfohlenen schwach wirksamen Opioiden ist Kodein das bei
Tumorschmerzen am häufigsten in kontrollierten Studien geprüfte. Seine analgetische Wirksamkeit beträgt etwa 10% von der des
Morphins.21 Für die Schmerztherapie zugelassene Kodein-Retardpräparate gibt es in Deutschland nicht. Nichtretardierte Präparate
müssten zur Schmerzsuppression alle vier Stunden eingenommen werden. Dies erscheint uns für die Dauerbehandlung chronischer Tumorschmerzen
weniger geeignet.
Der halbsynthetische Kodeinabkömmling Dihydrokodein wird dagegen als Retardpräparat angeboten (DHC MUNDIPHARMA RETARD; bis
zweimal täglich 120 mg). Er soll nach klinischer Erfahrung eine ähnliche analgetische Potenz haben wie Kodein,2 wird aber auch als
wirkstärker eingestuft.14 Interventionsstudien mit dem Mittel bei chronischen Schmerzzuständen sind spärlich. Wir finden nur eine kleine
randomisierte Studie, in der sowohl Dihydrokodein als auch Tramadol (TRAMAL u.a.) Schmerzen bei fortgeschrittenem Prostatakarzinom lindern.22
Unter den verfügbaren schwach wirksamen Opioiden werden in Deutschland am häufigsten Tramadol und die Fixkombination aus Tilidin und Naloxon
(VALORON N u.a.) verordnet. Tramadol ist hierzulande das mit Abstand meistverordnete Opioid überhaupt.23 Dieser Stellenwert lässt
sich unseres Erachtens mit der Nutzen-Schaden-Bilanz des Mittels nicht begründen. Tramadol (bis zweimal täglich 200 mg als Retardzubereitung) bindet
nicht allein an Opioid-Rezeptoren, sondern wirkt zusätzlich als Serotonin- und Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer. Das Mittel verursacht häufiger
Übelkeit und Erbrechen als Standardopioide, während die obstipierende Wirkung schwächer zu sein scheint. Tramadol kann in therapeutischen
Dosierungen Krampfanfälle24 und schwere psychiatrische Störwirkungen wie Halluzinationen auslösen.2,24 In schottischen
Leitlinien wird es daher als zur Tumorschmerztherapie ungeeignet eingestuft.2 Nach Einschätzung hiesiger Schmerztherapeuten sollen retardierte
Tramadolzubereitungen besser vertragen werden.25 Unter den mittelstarken Opioiden gibt es nur von Tramadol sondengängige Retardpellets
(TRAMADOLOR LONG Steckkapseln).
Tilidin wird nur in Deutschland in fixer Kombination mit niedrig dosiertem Naloxon angeboten. Diese soll Missbrauch vorbeugen. In therapeutischen
Dosierungen und bei Einnahme per os (bis zweimal täglich 300 mg als Retardzubereitung) soll die Beimischung des Opioidantagonisten keine Rolle spielen, da
er rasch hepatisch metabolisiert wird.21 Tilidin/Naloxon soll weniger obstipierend wirken als andere Opioide. Vergleichende Untersuchungen dazu
fehlen.14 Es ist zudem bei Tumorschmerzen schlecht untersucht.
Ein schwach wirksames Opioid, das aufgrund von Datenlage, Verträglichkeit, Verfügbarkeit von Retardpräparaten und Kosten eindeutig vorzuziehen
ist, lässt sich u.E. für die in Deutschland angebotenen Präparate nicht angeben. Tilidin/ Naloxon halten wir für am wenigsten geeignet. Uns
erscheint es sinnvoll, die Stufe 2 der Tumorschmerztherapie möglichst kurz zu halten und frühzeitig auf ein stark wirksames Opioid zu wechseln.
STUFE 3 BEI MÄSSIGEN BIS STARKEN SCHMERZEN: Bei jedem Patienten mit mäßigen bis starken Tumorschmerzen sollen Opioide
zumindest versucht werden. Es gibt keine Schmerzen, bei denen sich Nichtansprechen auf Opioide sicher vorhersagen lässt.2
Mittel der Wahl ist Morphin.2,26 Morphin gehört zu den reinen µ-Agonisten, die den Vorteil haben, dass sich ihre analgetische Wirksamkeit
über einen weiten Dosisbereich steigern lässt. Morphin ist das am besten erprobte stark wirksame Opioid.21 Es gibt keine hinreichenden Belege
dafür, dass eines der anderen Opioide besser analgetisch wirkt oder ein wesentlich besseres Störwirkungsprofil hat als Morphin.2,26-28 Morphin
per os wird von der Mehrzahl der Patienten gut vertragen.2 Es ist zudem in Deutschland das einzige Opioid, das in ausreichend variablen Zubereitungen
angeboten wird, um bedarfsgerecht aufdosieren und sowohl Dauer- als auch Durchbruchschmerzen behandeln zu können.
Die zur Analgesie benötigte Tagesdosis schwankt in sehr weiten Grenzen.2,26 In Studien werden mittlere Dosierungen zwischen 80 mg und 400 mg
pro Tag angegeben. Es können aber auch weit höhere Dosierungen erforderlich werden.14 Zur Dosisfindung sollen wegen des rascher
erreichbaren "Steady states" möglichst nichtretardierte Zubereitungen verwendet werden.2,26 Hierfür stehen Tabletten und Tropfen
zur Verfügung. Nichtretardiertes Morphin muss alle vier Stunden eingenommen werden. Durch eine doppelte Dosis zur Nacht lässt sich die
nächtliche Einnahme einsparen, ohne dass die Patienten durch den Schmerz geweckt werden.2,26 Die Wirkung setzt nach 20 Minuten ein, der volle
Effekt ist bei vierstündlicher Einnahme nach 12 bis 15 Stunden erreicht. In der Praxis werden Dosisanpassungen in der Regel alle 24 Stunden vorgenommen,
sofern nicht sehr starke Schmerzen bestehen, die eine raschere Dosissteigerung erfordern.2
Die Neueinstellung beginnt mit 5 mg bis 10 mg Morphin pro Einzeldosis. Dieselbe Dosis wird als Bedarfsmedikation zur Verfügung gestellt, die bei
Durchbruchschmerzen jederzeit (bis zu stündlich) eingenommen werden kann. Bei der Neukalkulation der regulären Dosis wird dann jeweils auch die
benötigte Bedarfsmedikation des vorherigen Tages berücksichtigt.2,26 Der Dosiszuwachs beträgt üblicherweise 30% bis 50% der
bisherigen Gesamttagesdosis.1,2,9
Ist eine hinreichende Schmerzkontrolle erreicht, sollte auf Retardzubereitungen umgestellt werden. Die unter schnell freisetzendem Morphin benötigte
Tagesgesamtdosis entspricht dabei der unter Retardpräparaten und wird je nach Wahl der Retardformulierung auf ein bis drei Einzeldosierungen verteilt. Zu
jedem regulären Einnahmezeitpunkt kann ohne Übergang auf die Retardformulierung gewechselt werden. Ein aktiver Morphinmetabolit wird über die
Nieren ausgeschieden und kann bei Niereninsuffizienz kumulieren.2 Die Relevanz dieses Metaboliten für die Entwicklung einer Opioidintoxikation wird
kontrovers diskutiert.27,28 In schottischen Leitlinien wird aber für Patienten mit eingeschränkter Nierenfunktion vorsichtshalber empfohlen, wegen
der besseren Steuerbarkeit nur nichtretardierte Präparate zu verwenden.2
Nach ersten Daten aus einer kleinen randomisierten Studie gelingt die Aufdosierung mit Retardzubereitungen ebenso rasch wie mit schnell freisetzenden.29
Die Dosisfindung mit nichtretardierten Präparaten gilt dennoch derzeit weiterhin als Standard.28
Akute, insbesondere durch körperliche Aktivität ausgelöste Schmerzspitzen lassen sich oft auch bei sonst stabil eingestellten Patienten nicht
vermeiden. Die Steigerung der regulären Morphindosis bis zur Kupierung dieser Durchbruchschmerzen kann mit inakzeptablen Nebenwirkungen einhergehen,
insbesondere Sedierung. Eine bessere Balance von Analgesie und unerwünschten Effekten wird daher durch zusätzliche Verordnung eines
nichtretardierten Präparates erzielt, von dem bei Auftreten der Durchbruchschmerzen oder gezielt vor vorhersehbaren schmerzhaften Bewegungen
"Rescue-Dosierungen" eingenommen werden. Jeder wegen mäßiger bis schwerer Schmerzen mit Opioiden behandelte Patient soll mit
Rescue-Medikation versorgt werden.2 Als Dosis wird in Leitlinien ein Sechstel der Gesamttagesdosis empfohlen.2,26 Nach Studien scheint aber
auch bei Durchbruchschmerzen eine individuelle Titrierung erforderlich.30,31 Wenn die Rescuemedikation häufiger als zwei- bis viermal pro Tag
gebraucht wird, soll Dosiserhöhung der Dauermedikation erwogen werden. Wenn Schmerzen immer wieder vor der nächsten Einnahme der
Dauermedikation auftreten, ist deren Dosis ebenfalls zu erhöhen.26
Mittel der Wahl für die Behandlung von Durchbruchschmerzen ist nichtretardiertes Morphin per os. Alternativ wird Fentanyl zur oral-transmukosalen Anwendung (ACTIQ) angeboten. ACTIQ besteht aus einer gepressten
Pulverarzneimittelmatrix (Lutschtablette), die mit essbarem Klebstoff an einem Kunstoffstiel befestigt ist. Sie muss etwa 15 Minuten lang gelutscht werden. Das Opioid
wird zu gleichen Teilen über die Mundschleimhaut und den Magen-Darm-Trakt aufgenommen. Die Bioverfügbarkeit von Fentanyl aus ACTIQ beträgt
50%.32 Die schmerzlindernde Wirksamkeit setzt innerhalb von 5 bis 15 Minuten ein.26 In plazebokontrollierten Studien ist eine Wirkdauer bis zu 60
Minuten belegt.32 In einem randomisierten Vergleich mit 134 erwachsenen Krebsschmerzpatienten wirkt ACTIQ geringfügig, aber signifikant schneller
als Morphin per os. Eine relevante Minderung der Schmerzintensität um mindestens ein Drittel nach 15 Minuten wird unter Fentanyl-Lutschtablette bei 42%,
unter Morphin bei 32% der Schmerzepisoden angegeben. Mängel wie die unterschiedlich strenge Ermittlung der optimalen Rescue-Dosis unter den beiden
Präparaten und die Beschränkung der Auswertung auf lediglich eine Stunde mindern die Aussagekraft der Studie.31 Die geringere klinische
Erfahrung und die hohen Kosten sprechen für einen Reservestatus von ACTIQ.
Effektive Therapie von Tumorschmerzen setzt regelmäßige
sorgfältige Erfassung der Schmerzen voraus. Die Schmerzintensität sollte mit einem einfachen Messinstrument, z.B. einer numerischen Rangskala, erfasst
werden.
Tumorschmerzen sollen nach dem Stufenschema der Weltgesundheitsorganisation
(WHO) behandelt werden. Chronische Schmerzen erfordern eine Analgesie "nach der Uhr". Die Schmerzmittel sollen möglichst per os eingenommen
werden.
Mittel der Wahl auf Stufe 1 bei leichten Schmerzen sind Parazetamol (BENURON
u.a.) oder nichtsteroidale Antirheumatika wie Ibuprofen (IBUPROFEN PB u.a.) oder Diclofenac (VOLTAREN u.a.). Von der Anwendung von Cox-2-Hemmern ist
abzuraten. Metamizol (NOVALGIN u.a.) erachten wir als Mittel der letzten Reserve.
Unter den schwach wirksamen Opioiden auf Stufe 2 lässt sich keines eindeutig
als Mittel der Wahl empfehlen. Uns erscheint es derzeit am sinnvollsten, die Stufe 2 des WHO-Schemas möglichst kurz zu halten und bei gegebener Indikation
frühzeitig auf ein stark wirksames Opioid zu wechseln.
Mittel der Wahl auf Stufe 3 ist Morphin (MST MUNDIPHARMA u.a.). Zur
Dosisfindung sollten nichtretardierte, bei guter Schmerzkontrolle retardierte Zubereitungen verwendet werden. Zusätzlich sollen alle Patienten Rescue-
Dosierungen zur Kupierung von Durchbruchschmerzen erhalten.
|