Mit dem im Oktober eingeführten Strontiumranelat (PROTELOS) zur
Behandlung der postmenopausalen Osteoporose wird ein altes Therapieprinzip wiederbelebt. Bereits in den 50er Jahren fand das "knochenaffine"
Element bei Knochenschwund Verwendung. Wegen Mineralisationsstörungen und Hemmung der Calcitriolsynthese soll die Methode jedoch wieder aufgegeben
worden sein. Die unerwünschten Effekte sollen auf den damals verwendeten Dosierungen und kalziumarmen Diäten beruht haben.1
EIGENSCHAFTEN: Strontium gehört zu den Erdalkalimetallen. Es hat stabile und instabile Isotope, darunter das unter anderem bei
Atomwaffentests freigesetzte 90Strontium sowie das zur Therapie schmerzhafter Knochenmetastasen genutzte ebenfalls radioaktive 89Strontium. Das Kation ist
chemisch und physikalisch eng verwandt mit Kalzium. Es hat eine hohe Affinität zum Knochen. Natürlich vorkommendes Strontium findet sich in Spuren
auch im menschlichen Skelett.1
Strontiumranelat besteht aus stabilem Strontium und Ranelinsäure, die im Magen-Darm-Trakt dissoziieren. Ranelinsäure gilt als pharmakologisch inaktiv.
Die orale Bioverfügbarkeit des Strontiums aus der Zubereitung beträgt 25%. Kalzium und kalziumreiche Nahrung hemmen die Absorption. Strontiumranelat
soll daher bevorzugt zur Nacht mindestens zwei Stunden nach der letzten Mahlzeit eingenommen werden.2
Das aufgenommene Strontium wird hauptsächlich in neu gebildetem Knochen abgelagert. Ob dabei ein Plateau erreicht wird - laut Herstellerangaben nach drei
Jahren - oder das Element weiter kumuliert bis hin zu Konzentrationen, die im Tierversuch mit Mineralisationsstörungen einhergehen, ist nach Einschätzung
der europäischen Arzneimittelbehörde EMEA ungeklärt. Die terminale Halbwertszeit nach wiederholter Einnahme wird auf etwa 200 Stunden
geschätzt. Strontium wird renal und mit dem Stuhl ausgeschieden. Bei schwerer Niereninsuffizienz soll das Mittel nicht verwendet werden.2
Der genaue Wirkmechanismus ist unklar. Strontium soll sowohl die Resorption als auch die Neubildung des Knochens beeinflussen. Vermutet wird, dass systemische
Effekte mit verminderter Parathormonsekretion wie auch direkte Wirkungen auf den Knochen beteiligt sind. Im Knochen angereichertes Strontium beeinflusst durch
Absorption von Röntgenstrahlen die Knochendichtemessung mit dem Standardverfahren DXA*. Der Anteil dieses Artefakts an der Erhöhung der
gemessenen Werte unter der Therapie ist unklar. Er wird derzeit auf 50% geschätzt.2
KLINISCHE WIRKSAMKEIT: Strontiumranelat wurde auf der Basis von zwei Phase-3-Studien zugelassen, von denen nur eine einen Nutzen
nachweist.2 Nur die Positivstudie (SOTI**) ist veröffentlicht.3 1.649 durchschnittlich 69 Jahre alte Frauen nach den Wechseljahren mit
niedriger Knochendichte und mindestens einem Wirbelbruch in der Vorgeschichte nehmen zusätzlich zu Kalzium und Vitamin D täglich 2 g
Strontiumranelat oder Plazebo ein. In der Verumgruppe beträgt die Rate neuer, durch radiologisches Screening entdeckter Wirbelbrüche (primärer
Endpunkt) nach drei Jahren 20,9%, unter Plazebo 32,8% (relatives Risiko [RR] 0,59; 95% Vertrauensbereich [CI] 0,48 bis 0,73; Number needed to treat [NNT] = 9).
Auch symptomatische Wirbelbrüche sind seltener (11,3% versus 17,4%; RR 0,62; 95% CI 0,47 bis 0,83; NNT = 17). Auf Frakturen des peripheren Skeletts hat
die Therapie keinen Einfluss (15,6% versus 16,9%; RR 0,90; 95% CI 0,69 bis 1,17).3
In der zweiten Phase-3-Studie (TROPOS***) mit über 5.000 durchschnittlich 77 Jahre alten Frauen ergibt sich innerhalb von drei Jahren hinsichtlich des
primären Endpunkts, der Rate peripherer Osteoporose-bedingter Brüche, kein signifikanter Unterschied zwischen täglich 2 g Strontiumranelat und
Plazebo (RR 0,85; 95% CI 0,71 bis 1,01). Auch Hüftbrüche werden nicht signifikant beeinflusst (RR 0,85; 95% CI 0,61 bis 1,19). Lediglich die
Häufigkeit neuer Wirbelfrakturen sinkt (RR 0,61; 95% CI 0,51 bis 0,73).2
UNERWÜNSCHTE WIRKUNGEN: Häufige unerwünschte Effekte sind mit jeweils 7% Übelkeit und Durchfall sowie Kopfschmerzen mit
3%.
Beunruhigend ist ein signifikanter Anstieg von Thrombosen unter Strontium (3,3% versus 2,2%; Number needed to harm = 91). Venöse
Thromboembolien nehmen um 50% zu (Odds Ratio [OR] 1,5; 95% CI 1,1 bis 2,1), Lungenembolien allein um 70% (OR 1,7; 95% CI 1,0 bis 3,1).
Strontiumanwenderinnen sind unter denen, die an Thromboembolie-bedingten Erkrankungen einschließlich zerebrovaskulären Komplikationen versterben,
überrepräsentiert. Im ersten Studienjahr sind auch kardial bedingte Todesfälle unter Verum häufiger.2
Bedenklich ist darüberhinaus eine Zunahme zentralnervöser Störwirkungen unter Strontium, wie Bewusstseinsstörungen (2,5% versus
2%), Gedächtnisstörung (2,4% versus 1,9%), Krampfanfälle (0,3% versus 0,1%) und Enzephalopathien, besonders bei Frauen in sehr hohem
Lebensalter.2,4
Unter Strontium nimmt die Serumkreatinkinase (CK) dosisabhängig zu.2 Ein - häufig reversibler - Anstieg auf mehr als das Dreifache der
oberen Norm wird bei 1% der Anwenderinnen beschrieben (0,4% unter Plazebo).4 5% bis 6% der Frauen mit CK-Anstieg berichten über
Muskelbeschwerden. Die Häufigkeit soll der unter Plazebo ähnlich sein.2 Zahlen werden jedoch nicht mitgeteilt.
Strontium senkt das Kalzium und steigert das Phosphat im Serum.
Im Tierversuch mit Ratten und Mäusen kommt es unter Knochenspiegeln, die dem Zwei- bis Dreifachen der therapeutisch erzielten Konzentrationen
entsprechen, zu Osteomalazie der Knochen und Zähne mit Spontanfrakturen und Mineralisationsstörungen.2,4 Auch bei Affen sind
Mineralisationsstörungen beschrieben. Der "No Observed Effect Level" liegt bei Plasmaspiegeln im klinischen Bereich. Nach Einschätzung der
EMEA ist unklar, ob unter Langzeiteinnahme auch bei Menschen die im Tierversuch schädlichen Konzentrationen im Knochen erzielt werden
können.2
Offen ist zudem die klinische Bedeutung der signifikanten Zunahme von Karzinomen der Calcitonin-sezernierenden C-Zellen der Schilddrüse bei
männlichen Ratten.2
Durch Komplexbildung kann Strontium die Absorption von oralen Tetrazyklinen oder Chinolonen hemmen. Während der Therapie mit diesen Antibiotika soll die
Strontiumeinnahme ausgesetzt werden.4
KOSTEN: Strontiumranelat (PROTELOS) wird mit monatlich 44,30 € für täglich 2 g auf dem Kostenniveau des Bisphosphonats Alendronat
(FOSAMAX; monatlich 43,57 € für täglich 10 mg) angeboten.
Strontiumranelat (PROTELOS) senkt innerhalb von drei Jahren die Rate neuer Wirbelfrakturen bei Frauen in der Postmenopause mit Wirbelbruch in
der Vorgeschichte. Anders als bei dem Bisphosphonat Alendronat (FOSAMAX) ist ein Einfluss auf nicht vertebrale Frakturen, insbesondere auf die klinisch
bedeutsamen Hüftfrakturen, nicht nachgewiesen.
Beim derzeitigen Kenntnisstand lässt sich nicht ausschließen, dass
Strontium bei längerfristiger Einnahme in Konzentrationen in den Knochen eingelagert wird, für die im Tierversuch Osteomalazie beschrieben ist. Die
Bedeutung der bei Ratten beobachteten Zunahme von C-Zellkarzinomen für Menschen ist unklar.
Strontium steigert die Rate thromboembolischer Komplikationen. Zentralnervöse
Störungen einschließlich Gedächtnisstörungen und Krampfanfälle nehmen zu. Dosisabhängig werden Muskelzellen geschädigt
mit Anstieg der Kreatinkinase im Serum.
Angesichts der potenziell lebensbedrohlichen Risiken erachten wir die Nutzen-
Schaden-Bilanz von Strontiumranelat als negativ. Uns ist nicht nachvollziehbar, warum das Mittel bei dieser Datenlage überhaupt zugelassen werden
konnte.
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DXA = Dual X-ray Absorptiometry |
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SOTI = Spinal Osteoporosis Therapeutic Intervention |
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TROPOS = TReatment Of Peripheral Osteoporosis |
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