Die Ständige Impfkommission (STIKO) hat im Juli ihren Impfkalender aktualisiert und empfiehlt neuerdings, alle 11 bis 14 Monate alten
Säuglinge und Kleinkinder gegen Windpocken zu impfen. Auch die so genannte "Catch up"-Impfung für ungeimpfte und bisher nicht an
Varizellen erkrankte 12- bis 15-Jährige, bislang Indikationsimpfung und damit vor allem Risikogruppen vorbehalten, wird zur Regelimpfung und auf 9- bis 17-
Jährige ausgeweitet.1 Die STIKO erwartet, dass mit sinkender Morbidität auch die Rate an Komplikationen und Hospitalisierungen sowie die
Kosten abnehmen.2 Zeitgleich mit der neuen Empfehlung kommt mit VARIVAX ein weiterer Lebendimpfstoff auf den Markt. Mit dem bereits seit 1984
zugelassenen VARILRIX stehen damit zwei attenuierte Windpockenvakzinen zur Verfügung.
Windpocken (Varizellen) sind eine hoch ansteckende, üblicherweise im Kindesalter auftretende Viruserkrankung. Sie verlaufen bei sonst gesunden Personen
normalerweise gutartig und heilen in der Regel ohne Narben ab. Immungeschwächte erkranken oft schwerer und erleiden eher Komplikationen. Häufigste
Folge ist eine bakterielle Superinfektion der Läsionen. ZNS-Manifestationen kommen bei etwa 0,1% vor, vor allem bei Kindern, äußern sich zumeist
als akute zerebelläre Ataxie oder meningeale Reizung und haben eine gute Prognose. Eine schwerwiegende Komplikation im Erwachsenenalter ist die
Varizellen-Pneumonie. Selten können zudem Myokarditis, Nephritis, Hepatitis u.a. auftreten. Kinder, deren Mütter in der Schwangerschaft an Windpocken
erkranken, sind zum einen durch das seltene kongenitale Varizellensyndrom gefährdet, zum anderen durch die oft besonders schwer verlaufenden perinatalen
Varizellen, die bei bis zu 30% zum Tod führen sollen.3 Die STIKO empfiehlt daher seit längerem die Impfung seronegativer Frauen mit
Kinderwunsch. Nach Infektion persistiert der Erreger, das zu den Herpesviren zählende Varicella-zoster-Virus, in den Spinal- und Hirnnervenganglien und ruft
bei Reaktivierung Herpes zoster hervor.
Da Windpocken in Deutschland nicht meldepflichtig sind, fehlen zuverlässige Zahlen zu Erkrankungs-, Komplikations- und Hospitalisierungsraten sowie
Todesfällen. Schätzungen gehen von jährlich etwa 750.000 Erkrankungen aus. Nach einer Untersuchung der "Erhebungseinheit für
Seltene Pädiatrische Erkrankungen in Deutschland" (ESPED) von 1997 beträgt die Häufigkeit von Komplikationen, die die Behandlung in einer
Kinderklinik erfordern, bei immunkompetenten Kindern und Jugendlichen bis 16 Jahre 0,85/100.000. Todesfälle wurden nicht beobachtet.4 Nach
Angaben des Statistischen Bundesamtes wurden 2001 1.772 Personen aller Altersgruppen (2,2/100.000) mit der Diagnose Windpocken stationär behandelt,
mehrheitlich Erwachsene. Laut Todesursachenstatistik verstarben 1998 bis 2002 pro Jahr durchschnittlich sechs Personen an Varizellen. Demgegenüber
kommt eine deutsch-schweizerische Arbeitsgruppe in einer vom VARILRIX-Hersteller GlaxoSmithKline (GSK) gesponserten Untersuchung zu deutlich höheren
Zahlen: Retrospektiv werden die Daten von 282 telefonisch befragten Praxen (Pädiatrie, Allgemeinmedizin und Innere) gesammelt, mit Hilfe des
Verschreibungsindex für Pharmazeutika (VIP) gewichtet und hochgerechnet. Daraus ergibt sich eine Komplikationsrate von 5,7%.5 Allerdings wurden
mit Otitis media (1%) und Bronchitis (bis 1%) Erkrankungen einbezogen, die üblicherweise nicht zu den Komplikationen von Windpocken
gehören.3 Bakterielle Superinfektionen machen fast die Hälfte (46%) der beobachteten Komplikationen aus. Todesfälle werden nicht
berichtet.5 Von dieser Arbeitsgruppe, der unter anderem der Präsident der Deutschen Vereinigung zur Bekämpfung der Viruserkrankungen e.V.
(DVV) WUTZLER angehört, stammt auch die aus US-amerikanischen Untersuchungen abgeleitete und sowohl in "gesundheitsökonomischen
Berechnungen"6 als auch in der VARIVAX-Werbung7 angenommene Zahl von 22 Todesfällen an Varizellen in Deutschland pro Jahr.
Diese fragwürdigen Daten bilden die Grundlage einer von der Arbeitsgruppe und dem Hersteller GSK erstellten Kosten-Nutzen-Analyse, nach der sich durch die
Impfung aller Kleinkinder bei einer angenommenen Durchimpfungsrate von 85% pro Jahr mehr als 600.000 Windpocken-Erkrankungen, knapp 33.000
Komplikationen, davon etwa 4.700 schwerwiegende, sowie 18 Todesfälle verhindern und jährlich über 50 Mio. € einsparen lassen.8
Die STIKO, die einer allgemeinen Empfehlung zur Varizellen-Impfung bislang eher kritisch gegenüberstand,9 hat diese Argumentation inzwischen
offenbar übernommen.2
In den USA wird die Immunisierung gegen Windpocken seit 1995 empfohlen. Bis 2002 soll die Impfrate im Landesdurchschnitt auf 81% gestiegen sein und in
Bundesstaaten, in denen die Immunisierung nicht Voraussetzung für den Besuch von Gemeinschaftseinrichtungen für Kinder ist, im Mittel 71%
betragen.2 Nach einer prospektiven epidemiologischen Untersuchung in drei ausgewählten US-amerikanischen Regionen haben Varizellen-
Erkrankungen von 1995 bis 2000 um 70% bis 85% abgenommen.10 Ein Rückgang Varizellen-bedingter Krankenhausbehandlungen lässt sich
dagegen in mehreren Studien statistisch nicht belegen.10-12 Lediglich Hospitalisierungen wegen invasiver Infektionen mit Streptokokken der Gruppe A als
Folge einer Windpocken-Erkrankung nehmen nach einer retrospektiven Analyse der Daten eines einzelnen Krankenhauses deutlich ab, bei insgesamt
gleichbleibender Häufigkeit einer Krankenhausbehandlung wegen invasiver Streptokokken-Infektion.13 Ein Rückgang Varizellen-bedingter
Todesfälle ist unseres Wissens ebenfalls nicht belegt.
Nach einer aktuellen Fall-Kontroll-Studie könnte die Schutzwirkung der Vakzine im Laufe der Jahre nachlassen.14 Berichte über Windpocken-
Ausbrüche in US-amerikanischen Schulen und Kindergärten trotz (oder wegen) hoher Durchimpfungsraten (bis 97%) weisen in dieselbe
Richtung.15,16 Eine Ursache könnte eine abnehmende natürliche Boosterung durch rückläufige Infektionen mit Wildvirus sein. Die
Notwendigkeit von Auffrischimpfungen wird daher diskutiert.12,14,15,17 Wie sich die Immunisierung langfristig auf die Zweitmanifestation des Varicella-
zoster-Virus, den Herpes zoster, auswirkt, bleibt offen. Boosterung durch Kontakt mit Kindern, die an Windpocken erkrankt sind, scheint vor der Erkrankung zu
schützen (a-t 2002; 33: 125). Bei hohen Impfraten könnten vermehrt Ungeimpfte (z.B. diejenigen, die heute
im Schulalter sind und bereits Windpocken hatten) an Zoster erkranken.18,19 Da Varizellen bei Geimpften meist mild verlaufen und deutlich weniger
ansteckend sind,20 haben sie vermutlich auch einen geringeren Booster-Effekt.
Noch im März vergangenen Jahres stand das Robert Koch-Institut einer generellen Varizellen-Impfung ablehnend gegenüber, vor allem wegen des
Fehlens eines Kombinationsimpfstoffes (Masern, Mumps, Röteln [MMR] plus Varizella).9 Impfraten von 85% und mehr hielt man mit den
verfügbaren monovalenten Impfstoffen damals für nicht realisierbar, befürchtete aber gleichzeitig bei niedrigeren Raten negative Folgen für die
Ungeimpften, speziell vermehrt Erkrankungen bei Jugendlichen und Erwachsenen, einhergehend mit einer erhöhten Komplikationsrate.9 Ein
Kombinationsimpfstoff ist auch heute nicht in Sicht. Auf Nachfrage kommentiert die STIKO: "...Es kann ... nicht Aufgabe der STIKO sein, die Impfung der Kinder
impfwilliger Eltern zu behindern, um eine mögliche Rechtsverschiebung des Infektionszeitpunktes (hin zu älteren Personen, -Red.) für bewusst
ungeimpfte Kinder zu verhindern. ..."21 Damit entzieht sich die STIKO ihrer Verpflichtung, die gesamtgesellschaftlichen Folgen abzuwägen,
bevor eine Impfung zum Standard erhoben wird.
Windpocken (Varizellen) sind eine üblicherweise im Kindesalter auftretende, in der Regel harmlos verlaufende Viruserkrankung.
Mit der Impfung (VARILRIX, VARIVAX) lässt sich die Erkrankungszahl deutlich senken oder der Verlauf mildern. Ein Einfluss auf die Häufigkeit von
Krankenhausbehandlungen und Todesfällen ist jedoch nicht belegt.
Die Dauer des Impfschutzes bleibt offen, ebenso die Notwendigkeit einer Auffrischimpfung. Windpockenausbrüche unter Geimpften sind beschrieben.
Ebenfalls ungeklärt sind die Folgen einer verbreiteten Impfung für Ungeimpfte: Der Infektionszeitpunkt könnte sich auf das Erwachsenenalter
verschieben mit dem Risiko einer höheren Komplikationsrate. Bereits Infizierte könnten vermehrt an Herpes zoster erkranken, da ihre Immunität nicht
mehr durch Wildvirus geboostert wird.
Die vorgelegten Kosten-Nutzen-Berechnungen sind unseres Erachtens unseriös, da sowohl die Komplikations- und Mortalitätsraten als auch die
angenommene Impfrate von 85% zu hoch angesetzt sind.
Wir lehnen die neuerdings empfohlene Impfung aller gesunden Kleinkinder gegen Windpocken bei der jetzigen Datenlage ab. Die Immunisierung sollte - wie bisher -
Risikogruppen vorbehalten bleiben.
|