"Jeder dritte Deutsche ist zu dick!", warnt die Deutsche Adipositas-Gesellschaft auf ihrer letzten Tagung.1 "Adipositas
ist als eine chronische Krankheit zu bewerten", und "Gewichtsreduktion senkt die Gesamtmortalität um mehr als 20%", konstatiert die deutsche
Adipositas-Leitlinie.2 Diese wurde unter personeller und finanzieller "Mitarbeit" der Firma Knoll erstellt, Anbieter des Appetithemmers Sibutramin
(REDUCTIL; a-t 9 [1998], 77; 2 [1999], 23).
Ernährungswissenschaftler und Epidemiologen werden nicht müde, die Bevölkerung zu ermahnen, dass sie abnehmen muss, um Krebs und Herz-
Kreislauf-Krankheiten vorzubeugen. Kaum jemand wagt zu widersprechen. Dabei gibt es erstaunlicherweise keine einzige prospektive kontrollierte
Interventionsstudie, die die Auswirkungen einer Gewichtsreduktion auf das Krankheits- und Sterblichkeitsrisiko Gesunder untersucht hätte. Es stehen
ausschließlich Daten aus epidemiologischen Studien zur Verfügung. Datenerhebung durch Fragebögen schränkt die Aussagekraft vieler dieser
Studien zusätzlich ein.
Wer im Laufe seines Lebens zunimmt und wer nicht, scheint stark von der genetischen Veranlagung abzuhängen. In den reichen
Industrieländern sind fast alle Menschen zumindest leicht überernährt. Manche können ihren Grundumsatz und damit die Kalorienverwertung
erhöhen und so eine Gewichtszunahme vermeiden oder beschränken.3,4 Andere speichern überflüssige Kalorien direkt als Fett. Diese
Fähigkeit war über Jahrtausende mit besserer Überlebenschance verbunden, etwa bei Krankheiten und Hungerperioden.
In einer Vielzahl von Studien wird das Mortalitätsrisiko bei Übergewicht untersucht.2 Übergewicht geht häufiger als
Normalgewicht mit Bluthochdruck, Diabetes mellitus, Hyperlipidämie, Gicht, koronarer Herzkrankheit und Asthma einher. Theoretisch müsste daher auch
das Risiko steigen, vorzeitig zu sterben. Tatsächlich findet sich in einigen epidemiologischen Studien eine lineare Abhängigkeit vom
Körpergewicht.5 Nach zwei der längsten Untersuchungen nimmt dieser Zusammenhang jedoch mit dem Alter ab.6,7 Über 50-
Jährige bzw. über 65-Jährige mit Body-Mass-Index (BMI*) zwischen 25 und 287 bzw. 326 kg/m² haben danach kein
erhöhtes Risiko, vorzeitig zu sterben. Nach einer sehr großen holländischen Studie haben mäßig Übergewichtige (BMI zwischen 25
und 27) sogar das niedrigste Mortalitätsrisiko.8 Höhere Sterblichkeit bei schlankeren Menschen wird unter anderem dadurch erklärt, dass
chronische Erkrankungen und vor allem Rauchen gleichzeitig gewichtsreduzierend und mortalitätssteigernd wirken (sogenannte Störgrößen
oder Confounder). Nach einer amerikanischen Langzeitstudie haben aber auch schlanke gesunde Frauen, die niemals geraucht haben, ein höheres
Mortalitätsrisiko als mäßig Übergewichtige.9 Die Interpretation dieser Daten wird dadurch erschwert, dass keine der Untersuchungen
sämtliche Störfaktoren ausreichend berücksichtigt: So wird der sozialen Schicht und der Verteilung des Körperfetts, zwei Faktoren mit
erheblichem Einfluss auf die Sterblichkeit,10,11 zu wenig Rechnung getragen.
Selbst wenn gesunde Menschen mit starkem Übergewicht ein erhöhtes Mortalitätsrisiko haben, folgt daraus noch nicht, dass Abnehmen die
Gefährdung mindert. Gewichtsreduktion senkt zwar Blutdruck und Blutzucker. Die klinische Relevanz dieses Effektes ist jedoch nicht geprüft.
Bemerkenswert ist, dass dünnere Patienten mit Diabetes oder Hypertonie eine schlechtere Prognose haben als dickere.12,13 Für die
behaupteten günstigen Auswirkungen des Abnehmens auf Gelenk- oder Lungenfunktion sowie Lebensqualität1 fehlen Belege bei Gesunden. Mehrere
Studien beschreiben eine erhöhte Sterblichkeit nach Gewichtsverlust. Ein Mangel der meisten Untersuchungen ist jedoch, dass sie nicht zwischen gewolltem
und unbeabsichtigtem Gewichtsverlust unterscheiden. Ungewolltes Abnehmen kann auf Erkrankungen beruhen, die das Sterberisiko erhöhen.
Nur drei größere amerikanische Studien untersuchen die Auswirkungen beabsichtigter Gewichtsreduktion. Ende der 50er Jahre wurden 93.000
40- bis 64-jährige übergewichtige Frauen und Männer nach gewünschter Gewichtsabnahme sowie nach Befinden und Erkrankungen befragt
und anschließend zwölf Jahre nachbeobachtet.14,15 Der dritten Untersuchung liegen retrospektive Angaben von 25.000 Frauen zwischen 55
und 69 Jahren über ihr Gewichtsverhalten seit dem 18. Lebensjahr zu Grunde. Die Nachbeobachtung beträgt drei Jahre.16 In keiner Studie wirkt
sich Abnehmen für gesunde Übergewichtige günstig auf die Sterblichkeit aus. In Untergruppenanalysen, die sich am Umfang des verlorenen
Gewichts oder der Geschwindigkeit des Abnehmens orientieren, weisen die statistisch signifikanten Ergebnisse sogar alle in die entgegengesetzte Richtung: Die
Mortalität Gesunder steigt mit dem Gewichtsverlust. Die in der deutschen Adipositas-Leitlinie zitierte Reduktion der Gesamtmortalität um mehr als 20%
stammt aus einer dieser Studien,14 betrifft aber nur Frauen mit Übergewichts-assoziierten Erkrankungen wie Diabetes oder Hypertonie. Die Verallgemeinerung
dieses Effekts auf gesunde Frauen und Männer, wie sie in der als "Evidenz-basiert" bezeichneten Leitlinie vorgenommen wird, ist nicht
zulässig.
Da sehr viele Versuche scheitern, das Gewicht dauerhaft zu reduzieren, sind Gewichtsschwankungen ("Jo-Jo"-Effekt) häufig. Von knapp
50.000 Krankenschwestern innerhalb der Nurses-Health-Studie berichten 5% über langfristig erfolgreiches Abnehmen. 55% geben dagegen mindestens einen
Abnehmversuch mit anschließendem Wiederanstieg des Körpergewichts im Laufe von 16 Jahren an.17 In prospektiven Studien gehen
Gewichtsschwankungen zwischen zwei und fünf Kilogramm mit einer Zunahme der Sterblichkeit um 25% bis 65% einher.18 Auch diese Studien
unterscheiden nicht zwischen gewollter und ungewollter Gewichtsabnahme und berücksichtigen nicht immer den Faktor Rauchen. Das Mortalitätsrisiko
könnte daher überschätzt werden. In der Nurses-Health-Studie, der einzigen Studie, in der Gewichtsschwankungen nach gewollter Abnahme
untersucht werden, ist der Jo-Jo-Effekt ein unabhängiger Risikofaktor für Cholezystektomien (relatives Risiko: 1,83). Je größer die
Gewichtsschwankungen, desto höher das Risiko.17 Dass Diätversuche und gezügeltes Essverhalten wesentlich zu Ess-
Störungen wie Bulimia nervosa beitragen, räumt auch die Leitlinie ein.2
Bereits kurz nach Ende des Zweiten Weltkrieges wurden in Deutschland Appetithemmer auf den Markt gebracht. Das erste Präparat, das zentrale
Anoretikum Phenmetrazin (PRELUDIN) war zunächst rezeptfrei erhältlich, wurde dann verschreibungspflichtig und zuletzt Betäubungsmittel, bevor es
schließlich wegen lebensbedrohlicher pulmonaler Hypertonien vom Markt verschwand (vgl. a-t 1 [1982], 13).19 Auch spätere zentrale
Appetithemmer erwiesen sich in der Praxis bald als gefährlich. In den 60er Jahren erkrankten allein in Deutschland fast 1.000 Menschen nach Einnahme von
Aminorex (MENOCIL) an irreversiblem, zum Teil tödlichen Hochdruck des Lungenkreislaufs (a-t 9 [1995], 90).
Jüngstes Beispiel sind die wegen Herzklappenschäden weltweit aus dem Handel gezogenen zentralen Anorektika Fenfluramin (PONDERAX) und
Dexfenfluramin (ISOMERIDE; a-t 9 [1997], 100; 10 [1997], 108). Das
Risiko geschädigter Herzklappen nimmt unter Dexfenfluramin von 2,1% auf 7,6% zu.20 Geht es nach dem europäischen Arzneimittelausschuss CPMP,
stehen drei weitere amphetaminartige Mittel vor dem Aus (a-t 9 [1999], 95).
Obwohl für keinen Appetithemmer nachgewiesen ist, dass er mehr kann, als für die Dauer der Einnahme das Gewicht zu senken, herrscht trotz der vielen
erzwungenen Marktrücknahmen kein Mangel an Nachfolgern. Derzeit sind der Lipasehemmstoff Orlistat (XENICAL) und der zentrale Appetithemmer Sibutramin
(REDUCTIL) neu auf dem Markt. Sibutramin kann Blutdruck und Puls steigern. Es ist zu befürchten, dass die Amphetaminvariante wie ihre Vorläufer
pulmonale Hypertonien auslösen kann. Orlistat hemmt die Aufnahme fettlöslicher Vitamine. Schmierige Durchfälle und Stuhlinkontinenz werden von
einigen "Experten" als erzieherische Wirkung des Mittels bei Diät-Non-Compliance begrüßt. In klinischen Studien ist der Lipasehemmer mit
häufigeren Brustkrebserkrankungen in Verbindung gebracht worden (a-t 9 [1998], 77).
Jo-Jo-Effekte sind bei pharmakologisch erzielter Gewichtsreduktion inbegriffen. Werden die Mittel abgesetzt, steigt das Gewicht wieder an. Gewichtsschwankungen
verführen Ärzte und Patienten dazu, die Therapie über den zugelassenen Zeitraum hinaus fortzusetzen. Die schottische Leitlinie zur Behandlung von
Übergewicht, eine der herausragenden Referenzen der deutschen Leitlinie, hat auf den "Absturz" von Fenfluramin und Dexfenfluramin reagiert und
empfiehlt keinen Appetithemmer mehr.21
Das heute gesellschaftlich vorherrschende Schönheitsideal, der Imperativ zur Model-Figur in den Medien sowie allgegenwärtige ärztliche
Ermahnungen zur Gesundheitspflicht und Diät für Übergewichtige lösen bei Betroffenen Schuldgefühle, Kummer und Depression
aus.22 Selbst Normalgewichtige, denen in einer experimentellen Studie mitgeteilt wird, dass sie zu dick seien, reagieren mit Depression und
Minderwertigkeitsgefühl.23 Übergewichtige sind in unserer Gesellschaft Diskriminierungen und Schmähungen ausgesetzt.24
Unabhängig von ihrem ursprünglichen sozioökonomischen Status und ihrer Begabung erhalten sie in den USA eine schlechtere Schulausbildung,
verdienen jährlich etwa 6.700 US Dollar weniger als Schlankere und haben eine deutlich geringere Chance zu heiraten.25 Auch in Europa haben sie
unabhängig vom ursprünglichen sozialen Status, von Intelligenz und Ausbildung schlechtere Aufstiegschancen.11 Die Auswirkungen dieser
sozialen Benachteiligung übergewichtiger Menschen auf das Erkrankungs- und Sterberisiko sind nicht untersucht.
FAZIT: Für ärztliche Ermahnungen an gesunde Übergewichtige zum Abnehmen, jetzt auch in Form einer "Evidenz-basierten" Leitlinie,
gibt es keine valide Datenbasis. Die derzeit beste Evidenz lässt keinen Nutzen im Sinne eines verringerten Mortalitätsrisikos durch Abnehmen erkennen.
Es gibt vielmehr Hinweise, dass das Sterblichkeitsrisiko dieser Menschen durch Gewichtsreduktion sogar zunimmt. Das gesellschaftlich vorherrschende
Schönheits- und Gesundheitsideal setzt übergewichtige Menschen einem starken psychosozialen Druck aus und diskriminiert sie. Bevor gesicherte
Empfehlungen für gesunde Übergewichtige ausgesprochen werden können, sind die Ergebnisse randomisierter Interventionsstudien
abzuwarten.
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Körpermassenindex = Gewicht in kg geteilt durch quadrierte Körpergröße in m; Normalgewicht: BMI = zwischen
18,5 und 25
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