Seit Mai 1997 steht die gentechnisch hergestellte Hirudin-Variante Lepirudin (REFLUDAN) zur Verfügung. Der Thrombinhemmstoff dient der
Gerinnungshemmung bei Heparin (LIQUEMIN N u.a.)-induzierter Thrombozytopenie (HIT, siehe Kasten) vom Typ II, wenn thromboembolische Komplikationen
bestehen und eine parenterale Antikoagulation benötigt wird. Damit gibt es eine Alternative zum Heparinoid Danaparoid (Niederlande: ORGARAN; a-t 8 [1995], 85), unter dem sich die Thrombozytenzahl bei HIT II zu etwa 90% normalisiert und das eine wirksame
parenterale Antikoagulation ermöglicht, sofern kreuzreagierende Antikörper ausgeschlossen werden. Diese kommen jedoch bei mindestens jedem
Zehnten vor und sind dann häufig Ursache weiterer thromboembolischer Komplikationen einschließlich Todesfällen.1
HEPARIN-INDUZIERTE THROMBOPENIE
HIT vom Typ II ist eine stets lebensbedrohliche Komplikation, die bei bis zu 3% der Patienten ohne Vorsensibilisierung nach 6 bis 14 Tagen unter unfraktioniertem,
seltener unter niedermolekularem Heparin auftritt (vgl. a-t 6 [1994], 51). IgG-Antikörper gegen Heparin und
Plättchen-Faktor IV bilden dabei Immunkomplexe, die zur Thrombozytenaktivierung und nach Adhäsion am Endothel zu Gefäßschäden mit
Thrombosierungen im Sinne eines "White-clot-Syndrome" führen.5 Arterielle und venöse thromboembolische Komplikationen
können folgen. Die Amputationsrate beträgt dann 10% bis 20%, die Mortalitätsrate sogar 20% bis 30%.
Für die Diagnose der HIT II wird der Nachweis von Antikörpern gegen Heparin/Plättchen-Faktor IV gefordert (vorzugsweise ELISA- oder HIPA-Test
= Heparin-induzierter Plättchen-Aktivierungs-Test) und ein Abfall der Thrombozyten unter 100.000 µl (bzw. um 30% bis 50% des
Ausgangswertes).6 |
EIGENSCHAFTEN: Das aus dem medizinischen Blutegel (Hirudo medicinalis) gewonnene Hirudin bindet und hemmt Thrombin direkt im Verhältnis
1:1. Wegen der geringen Molekülgröße (MW ca. 7.000) erreicht es auch das im Gerinnsel an Fibrin gebundene Thrombin. Hirudin wirkt
unabhängig von Antithrombinen wie z.B. AT III.2 Der antikoagulatorische Effekt von Lepirudin ist mit Hilfe der aktivierten partiellen Thromboplastinzeit
(aPTT) kontrollierbar, die eng mit dem Plasma-Lepirudin-Spiegel korreliert.
WIRKSAMKEIT: Zwei prospektive, unkontrollierte Studien, von denen erst Teilergebnisse als Abstract veröffentlicht sind,3 bilden die Basis
für die EU-Zulassung. Insgesamt 125 Patienten, bei denen im Rahmen einer HIT II thromboembolische Komplikationen auftraten, wurden im Mittel zehn Tage
lang behandelt. Als historische Kontrollgruppe dienen 120 Patienten mit HIT II in den vergangenen zehn Jahren, die gar nicht bzw. mit Phenprocoumon
(MARCUMAR u.a.) oder Danaparoid antikoaguliert wurden.
Die Behandlungsergebnisse entsprechen insgesamt denen von Danaparoid nach Ausschluss kreuzreagierender Antikörper:1 Unter Lepirudin
normalisieren sich die Thrombozytenwerte ebenfalls bei mehr als 90%. Mit 9,6% finden sich thromboembolische Komplikationen seltener als in der historischen
Vergleichsgruppe (25%). Auch die Zahl der Todesfälle (8,8% vs. 18%) und der notwendigen Amputationen (5,6% vs. 6,7%) scheint unter Lepirudin tendenziell
niedriger zu liegen.4 Nach Umstellen auf Lepirudin wird der pathogenetische Prozess der HIT II offenbar effektiv unterbrochen. Wie erwartet, lassen sich
jedoch nicht alle Komplikationen verhindern, möglicherweise weil sie bereits initiiert sind.
STÖRWIRKUNGEN:4 Bei 39% der Patienten mit HIT II kommt es zu Blutungskomplikationen, die bei 11% schwer verlaufen. Am häufigsten sind
Blutungen aus Wunden (9%) oder Punktionsstellen (6%) sowie Hämaturien (7%) und Hämatome (7%), daneben Nasenbluten, Lungenblutungen
einschließlich Hämatothorax sowie gastrointestinale und peranale Blutungen. Insgesamt liegt die Rate der Hämorrhagien unter Lepirudin etwas
höher als die der historischen Vergleichsgruppe (32%). Fieber (7%) sowie allergische Reaktionen wie Exantheme (4%) sind beschrieben. Etwa 40% der
Behandelten entwickeln Antikörper gegen Lepirudin, ohne dass die Wirksamkeit abnimmt. Kreuzreaktionen der HIT-II-Antikörper gegen Lepirudin werden
nicht beobachtet.
KOSTEN: Bei einer Erhaltungsdosis von 0,15 mg/kg Körpergewicht/Std. als i.v.-Dauerinfusion über zwei bis zehn Tage kostet der
Behandlungstag etwa 800 DM und damit das Zwei- bis Fünffache von ORGARAN (ca. 150 bis 350 DM).
FAZIT: Das gentechnisch hergestellte Lepirudin (REFLUDAN) ermöglicht die Gerinnungshemmung bei Heparin-induzierter Thrombozytopenie (HIT). Unter
der Hirudin-Variante scheinen sich die Thrombozytenwerte nach den bisher vorliegenden spärlichen Daten bei über 90% der Patienten zu normalisieren,
wenn eine weitere parenterale Antikoagulation notwendig ist. Dies entspricht dem Nutzen des Heparinoids Danaparoid (Niederlande: ORGARAN) nach Ausschluss
kreuzreagierender Antikörper. HIT-Komplikationen lassen sich aber nicht völlig verhindern. Blutungen, auch schwerwiegende, sind häufig. Für
Patienten mit kreuzreagierenden Antikörpern gegen Danaparoid bedeutet Lepirudin eine therapeutische Erweiterung. Fehlen solche, kann weiterhin das
deutlich preiswertere Danaparoid verwendet werden.
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