Ein "Insulin, das sich nach dem Appetit richtet"1 verspricht die Lilly GmbH für das vor wenigen Wochen
eingeführte Kunstinsulin Lispro (HUMALOG). Alle Abwandlungen vom Humaninsulin (Insulin-Analoge) müssen sich am Anfang der achtziger Jahre
erreichten Ideal messen lassen. Im Unterschied zur Vor-Humaninsulin-Ära, als es zu Schweine- und Rinderinsulin keine Alternativen gab, giIt es, die
Verträglichkeit von Insulinvarianten umfassend zu dokumentieren, um vermeidbare Risiken auszuschließen.
Das gentechnisch erzeugte Analog unterscheidet sich vom menschlichen Insulin durch zwei in ihrer Reihenfolge vertauschte Aminosäuren: Lysin und Prolin
(Lispro). Subkutan injiziertes Insulin Lispro geht schneller ins Blut über. Die raschere Aufnahme soll darauf beruhen, daß die Moleküle sich im
Unterschied zu Humaninsulin weniger leicht zu Sechserverbänden (Hexameren) aneinanderlagern. Insulin tritt aus dem Gewebe nur als Einzelmolekül oder
Zweierverband ins Blut über.2 Hexamere finden sich jedoch auch in der HUMALOG-Lösung.3 Neuere Untersuchungen legen zudem
nahe, daß der transendotheliale Transport des Hormons über Rezeptoren vermittelt wird4 und nicht nur durch physikalischen Zerfall. Die
schnellere Aufnahme ins Blut könnte daher auch Ausdruck einer vom Humaninsulin abweichenden biologischen Wirkung sein.
SPRITZ-ESS-ABSTAND: Subkutan injiziertes Normalinsulin braucht etwa 20 Minuten bis zum Anstieg stoffwechselwirksamer Konzentrationen im Blut.
Lispro wird etwa fünf bis 15 Minuten schneller aufgenommen als Human-Normalinsulin U100. Der Unterschied zu weniger konzentriertem (U40) Insulin
dürfte geringer ausfallen. Ein Vergleich fehlt (a-t 3 [1996], 26).
Ob eine Verkürzung des Wirkeintritts um 15 Minuten relevante therapeutische Vorteile bietet, steht in Frage. Der Blutzuckerverlauf nach einer Mahlzeit
hängt von Art und Menge der verzehrten Kohlenhydrate, ihrer Mischung mit Fett und Eiweiß sowie der individuellen Verdauungsleistung ab. Die
postprandiale Blutzuckerkinetik variiert zudem interindividuell um bis zu 50%.5 Ein fixer Spritz-Eß-Abstand ist folglich unbegründet und wird bei
intensiver Insulintherapie praktisch nicht angewandt.6,7 Wird etwa vor der Mahlzeit ein Blutzucker von 60 mg% gemessen, würde zuerst gegessen und
dann gespritzt, bei einem Blutzucker von 260 mg% würde gespritzt, gewartet und dann gegessen.
WIRKSTÄRKE UND -DAUER: Lispro senkt den Blutzucker ein bis zwei Stunden nach dem Spritzen/Essen um ca. 20 mg% tiefer als Human-
Normalinsulin U 100. Unmittelbar anschließende Muskelarbeit wie bei einem Verdauungsspaziergang geht mit größerem Unterzuckerungsrisiko
einher.8
Bis zu einer Dosis von ca. 0,2 Einheiten/kg Körpergewicht verläuft der Serumspiegel nach Injektion des Kunstinsulins ähnlich dem des
Humaninsulins U100. In höheren Dosierungen wirkt das Insulinanalog kürzer. Zu den möglichen Ursachen stärkere Verteilung,
schnellerer Abbau oder Elimination vermag der Hersteller keine Angaben zu machen. Etwa drei Stunden nach einer großen Mahlzeit von z.B. 8 BE kann
daher im Unterschied zu Humaninsulin der Blutzucker erneut ansteigen.8
STOFFWECHSELQUALITÄT: Aussagekräftige Untersuchungen, wie sich das Kunstinsulin auf die Stoffwechselqualität, meßbar u.a.
am glykosilierten Hämoglobin (HbA1c) auswirkt, fehlen. In der einzigen bisher veröffentlichten randomisierten Doppelblindstudie mit einem Insulinanalogon
dem ähnlich schnell wie Lispro absorbierten B10Asp6 unterscheiden sich die Stoffwechselwerte im Vergleich zu Humaninsulin
(ACTRAPID HM 100) nicht (Tabelle).
LEBENSQUALITÄT: Lispro fördert angeblich die Lebensqualität. Methodisch einwandfreie Belege für diese Behauptung stehen
aus.
RISIKEN: Insulin ist im menschlichen Organismus an mehr als zwei Dutzend Reaktionen beteiligt. Die Lilly GmbH bestreitet, daß sich Lispro in seinen
biologischen Wirkungen wesentlich von Humaninsulin unterscheidet. Eine um 100% höhere Bindung an Rezeptoren des insulinähnlichen
Wachstumsfaktors (IGF-1) ist in ihren Konsequenzen nicht aufgeklärt. Ob IGF-1 durch Lispro von seinen Bindungsproteinen verdrängt wird, bleibt zu
untersuchen. Das Kunstinsulin unterdrückt die endogene Glukagonreserve bei Typ-1-Diabetikern offenbar schwächer als Humaninsulin. Lispro-Anwender
haben nach Muskelarbeit deutlich höhere Glukagonspiegel als Anwender von Humaninsulin.8 Die klinische Bedeutung ist unbekannt.
Das mitogene Potential von Lispro soll nach Firmeneinschätzung "marginal höher als das von Insulin" sein.9 Solche Ergebnisse sind
beachtenswert, weil es unerwartete Zufallsbefunde gibt,10 z. B. Mammatumoren bei Ratten nach dem Insulinanalogon "B10Asp".6 Andere
Insulin-Analoga unterscheiden sich vom Humaninsulin in ihrer Rezeptoraffinität und -funktion um 10% bis 1000%.4
FAZIT: Patienten mit intensiver Insulintherapie variieren den Spritz-Eß-Abstand bewußt zur Stoffwechseleinstellung. Die in der Werbung für das
künstliche Insulin Lispro (HUMALOG) herausgestellte fünf- bis fünfzehnminütige Verkürzung des Wirkungseintritts HUMALOG wirkt
"ohne Spritz-Eß-Abstand" dient somit als Scheinargument. Klinische Vorteile des Kunstinsulins sind nicht dokumentiert, die
Bioäquivalenz ist nur ansatzweise nachgewiesen, die Produktsicherheit angesichts der vielfältigen biologischen Abweichungen vom Humaninsulin fraglich.
Angaben zum Einfluß auf das kindliche Wachstum fehlen. Wir sehen keine medizinische Notwendigkeit für das um ein Drittel teurere
Kunstinsulin.
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