Charakteristisch für das Reizdarmsyndrom ist ein Symptomenkomplex aus abdominellen Schmerzen, Blähungen und Spannungsgefühlen
sowie Stuhlunregelmäßigkeiten. Geläufige Bezeichnungen wie "Reizkolon", "spastisches" oder "irritables Kolon" und
"Colica mucosa" beschreiben das Krankheitsbild nur unvollständig und werden nicht mehr empfohlen.1,2 In Industrieländern leiden
15% bis 20% der Bevölkerung an der Erkrankung. An sich gutartig, verläuft sie über Jahre chronisch-rezidivierend. Das Syndrom soll eine der
häufigsten Ursachen krankheitsbedingter Arbeitszeitausfälle sein.1,3
KRANKHEITSBILD UND URSACHEN: Ätiologie und Pathogenese des Reizdarmsyndroms sind weitgehend unklar und wahrscheinlich nicht
einheitlich. Am häufigsten werden Motilitätsstörungen beschrieben, z.B. Verstärkung oder Abschwächung peristaltischer Kontraktionen.
Oft besteht eine gesteigerte nicht-propulsive Peristaltik und generelle Übererregbarkeit des Darmes im Sinne einer abnormal verstärkten Motilität auf
Stimuli wie Nahrungsmittel, Streß und Medikamente. Insgesamt ist aber nur das Vorliegen von Motilitätsstörungen, weniger deren Art für das
Reizdarmsyndrom charakteristisch. Eine Beziehung zwischen nachgewiesener Motilitätsstörung und klinischer Symptomatik scheint am ehesten für
Schmerzen und verstärkte Darmkontraktionen zu bestehen.1,4,5
Nach neueren Befunden soll die intestinale Perzeption für Reize verändert sein. So führt bei den Patienten ein geringerer Darmgasgehalt oder beim
Aufblasen von Ballons in Kolon und Rektum ein geringeres Volumen zu Schmerzen als bei Gesunden. Diskutiert wird auch eine veränderte intestinale
Schmerzschwelle. Diese soll bei Patienten mit Reizdarmsyndrom auch für andere viszerale, nicht jedoch für somatische Reize vorliegen.
Völlegefühl und Blähungen scheinen sie stärker wahrzunehmen als Gesunde.1,4,5
Personen mit Reizdarmsyndrom beschreiben beim Arzt häufig Ängste, Depressionen und psychosomatische Symptome. Jedoch sind psychische
Auffälligkeiten in der Gesamtgruppe der Patienten nicht häufiger als bei Gesunden. Bestimmte Persönlichkeitsstrukturen und psychiatrische
Erkrankungen dürften mit einer veränderten, aggravierenden Wahrnehmung abdomineller Beschwerden einhergehen. Emotionale oder psychosoziale
Streßsituationen können die Symptomatik zwar verstärken, gelten jedoch nicht als Ursache des Reizdarmsyndroms.1,4-6
Ein kausaler Zusammenhang zwischen ballaststoffarmer Ernährung und Reizdarmsyndrom ist nicht erwiesen. Eine Korrelation besteht lediglich zur Obstipation
als Einzelsymptom der Erkrankung. Besteht ein Zusammenhang der Beschwerden mit bestimmten Nahrungsmitteln, sind Nahrungsmittelallergien, Laktose- und
Fruktose-Intoleranzen oder übermäßiger Genuß von Kaffee, Sorbitol (Kaugummi), Aspartam u.ä. zu
berücksichtigen.4,6,11
DIAGNOSE: Bestimmte Symptomkonstellationen ermöglichen die Diagnose eines Reizdarmsyndroms (ROM-Kriterien):1,4-6
- Mindestens drei Monate anhaltende chronische oder rezidivierende abdominelle Schmerzen oder Mißempfindungen, die nach dem Stuhlgang abnehmen
und/ oder begleitet sind von einer Änderung der Stuhlfrequenz und/oder der Stuhlkonsistenz, sowie
- zusätzlich mindestens drei der folgenden Symptome an mehr als 25% der Tage:
- veränderte Stuhlfrequenz (unter drei pro Woche, über drei pro Tag),
- veränderte Stuhlkonsistenz (hart, wässrig-breiig, "Schafkot"),
- veränderte Stuhlpassage (erschwerte, dranghafte oder inkomplette Entleerungen),
- Schleimbeimengungen,
- abdominelles Bläh- und Spannungsgefühl.
Auch wenn diese Kriterien erfüllt sind, muß zum Ausschluß anderer Erkrankungen ein diagnostisches Basisprogramm durchgeführt werden:
Ausführliche Anamnese und körperliche Untersuchung, Stuhluntersuchungen auf okkultes Blut, pathogene Keime, Parasiten und Würmer sowie
Blutuntersuchungen der Basis-Laborparameter (z.B. Blutbild, -senkung, Elektrolyte). Eine Sigmoidoskopie wird für alle Patienten, eine komplette Kolon-
Diagnostik meist nur jenseits des 40. Lebensjahres empfohlen. Auffälligkeiten zwingen zur weiteren Diagnostik, orientiert an der dominierenden Symptomatik
(Obstipation, Diarrhoe, Schmerz- und Spannungsgefühl).3,4
THERAPIE: Das Reizdarmsyndrom ist eine zwar chronisch-rezidivierende, jedoch gutartige und nicht progrediente Erkrankung, die die Lebenserwartung
nicht einschränkt. Der Verträglichkeit der Arzneitherapie kommt daher besondere Bedeutung zu.
Eine 1988 vorgenommene Auswertung von 43 kontrollierten, randomisierten und doppelblind durchgeführten Arzneimittelstudien beim Reizdarmsyndrom
umfaßt so verschiedenartige Mittel wie Spasmolytika (12 Studien), Ballaststoffe (6), Antidepressiva (5), Tranquilizer (4), Anticholinergika (3),
Dopaminantagonisten (3), Opiatabkömmlinge (3), Pfefferminzöl (3), Antikonvulsiva (2), Betablocker (1) und Kalziumantagonisten (1). Zum Teil werden
positive Effekte auf globale Krankheitsparameter (19 Studien) oder zumindest auf Einzelsymptome (16 Studien) beschrieben, jedoch zeigen alle untersuchten Studien
erhebliche Mängel hinsichtlich Patientenzahl, Behandlungsdauer, Studienprotokoll oder Diagnose- und Erfolgskriterien. Somit liefert "keine einzige Studie
einen überzeugenden Beweis für die Wirksamkeit einer medikamentösen Therapie beim Reizdarmsyndrom".7 Hohe Plazebo-
Ansprechraten bis 84% fallen auf, sowie häufige medikamentenbedingte Störwirkungen bei bis zu 69% der Patienten.
Bis heute ist für kein Arzneimittel eine günstige Wirkung auf den Gesamtverlauf der Erkrankung belegt.1-5 Angesichts des ausgeprägten
Plazebo-Effektes und in der Hoffnung, daß sich zumindest Einzelsymptome günstig beeinflußen lassen, läßt sich bei entsprechendem
Leidensdruck eine an den Hauptbeschwerden orientierte und zeitlich begrenzte Therapie mit verträglichen Arzneimitteln rechtfertigen.1-6 Die Gefahr
einer Polypragmasie ist jedoch offensichtlich.
Dominieren abdominelle Schmerzen, Bläh- und Spannungsgefühle, können Spasmolytika versucht werden. Setzen die Beschwerden
postprandial ein, sind die Medikamente direkt vor den Mahlzeiten einzunehmen.1,2,5 Relevante Unterschiede zwischen Anticholinergika wie Belladonna
(BELLADONNYSAT BÜRGER u.a.) oder Dicycloverin (SPASMO-RHOIVAL N), dem peripher wirkenden Spasmolytikum Trimebutin (DEBRIDAT [Schweiz]),
direkten Spasmolytika, z.B. Mebeverin (DUSPATAL; a-t 5 [1992], 51), oder Pfefferminzöl (MENTACUR u.a.) sind
nicht zu erkennen. Das neuere Cimetropiumbromid (ALGINOR [Italien]) soll "selektiv" am Darm wirken. Ein erster Bericht über einen begrenzten
Nutzen auf die Schmerzsymptomatik bedarf der Bestätigung.5
Ein Behandlungsversuch mit Antidepressiva wie Amitriptylin (SAROTEN u.a.) oder Desipramin (PERTOFRAN u.a.) für zunächst vier Wochen kann bei
chronischen, die Alltagsaktivitäten einschränkenden abdominellen Schmerzen angebracht sein, die mit Angst-, Depressions- oder Paniksymptomatik
einhergehen (vgl. a-t 10 [1993], 95).5 Die atropinartigen Effekte der trizyklischen Antidepressiva könnten
zum Nutzen beitragen
Stehen Diarrhoen im Vordergrund, erscheint die zeitlich begrenzte Einnahme von Loperamid (IMODIUM u.a.) vertretbar, vor allem, wenn sie bei emotionalen
Streßsituationen auftreten oder zu Kontinenzproblemen führen.1-3,5 Das peripher wirkende Opioid bremst die Darmmotilität und erhöht
den Tonus des Analsphinkters. Störwirkungen sind seltener als beim ZNS-gängigen Kodein (CODEINUM COMPRETTEN u.a.) oder Diphenoxylat (in
REASEC).1-3 Beim Leitsymptom Durchfall scheinen häufiger echte Nahrungsmittelallergien vorzuliegen,3,10 bei denen die Behandlung mit
Cromoglicinsäure (COLIMUNE) per os versucht wird.11 Allergieauslösende Nahrungsmittel sind möglichst zu meiden.
Dominieren Klagen über Obstipation, ist chronischer Laxantien-Mißbrauch zu vermeiden oder zu unterbrechen. Zur Basistherapie gehört eine
faserreiche Ernährung, eventuell mit Zusatz von Weizenkleie oder Leinsamen. Laxantien dürfen allenfalls kurzfristig verwendet werden, vorrangig
osmotisch wirkende Mittel (z.B. Magnesiumsulfat [Bittersalz], Laktulose [BIFITERAL u.a.]) oder Glyzerin-Zäpfchen (GLYCILAX).1-3,7,8,9
Unter den Prokinetika bleiben die Dopaminantagonisten Domperidon (MOTILIUM) und Metoclopramid (PASPERTIN u.a.) ohne klinisch relevanten
Effekt.3,5 Wie bei der habituellen Obstipation12 ist der Nutzen des neueren Metoclopramid-Abkömmlings Cisaprid (ALIMIX, PROPULSIN; a-t 4 [1990], 36) beim Reizdarmsyndrom ebenfalls von marginaler klinischer Relevanz: Verglichen mit Plazebo nimmt die
Anzahl der Tage pro Woche mit Stuhlgang nur unwesentlich zu (auf 5,3 versus 4,4). Die angebliche Reduktion der Schmerz-, Angst- und Depressionssymptomatik ist
aus dem Wirkspektrum des Mittels kaum erklärbar.13 Weder bei mäßiger noch bei starker Verstopfung wird Cisaprid als hilfreich
eingeschätzt.5
NICHTMEDIKAMENTÖSE MASSNAHMEN: Die hohe Erfolgsrate einer Plazebo-Therapie weist auf die Bedeutung suggestiver Komponenten der
Behandlung hin. Die Patienten sind über die Gutartigkeit, aber auch über die Chronizität ihrer Beschwerden aufzuklären und in ihrem Leiden
ernst zu nehmen. Wichtig sind Informationen über richtige Stuhl- und Ernährungsgewohnheiten.1-3,5
Entspannungsübungen, Biofeedback-Verfahren, autogenes Training und Streßreduktionsprogramme werden als sinnvoll erachtet.1,3,5 Sowohl
verhaltenstherapeutische als auch analytisch orientierte Methoden gelten als erfolg-
versprechend,1,5 gerade bei Personen, deren Beschwerden nicht auf Medikamente ansprechen. Patienten mit kurzer Anamnese und Angst- oder
Depressionssymptomatik scheinen für eine solche Therapie besonders geeignet.14
FAZIT: Das Reizdarmsyndrom ("Reizkolon") ist ein chronisch-rezidivierendes, aber gutartig verlaufendes funktionelles Leiden unklarer Genese.
Verstopfung, Durchfall oder abdominelle Schmerzen können dominieren. Nach wie vor gibt es keine Medikamente mit gesicherter Wirksamkeit auf den
gesamten Krankheitsverlauf. Dennoch ist bisweilen eine zeitlich begrenzte symptomatische Therapie der Hauptbeschwerden mit verträglichen Arzneimitteln
hilfreich. Plazebo-Ansprechraten reichen bis zu 84%. Entspannungsübungen sowie analytisch oder verhaltenstherapeutisch orientierte Behandlungsverfahren
können sinnvoll sein.
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