Fast zeitgleich kommen jetzt mit Exenatide (BYETTA) und Sitagliptin (JANUVIA) zwei neue Antidiabetika in den Handel, die sich in ihrer Wirkweise von
allen bisherigen unterscheiden. Sie haben auch miteinander nur insofern Ähnlichkeit, als sie beide am System der so genannten Inkretine angreifen. Inkretine
wie das Glucagon-like Peptid 1 (GLP-1) sind Hormone, die im Gastrointestinaltrakt als Reaktion auf die Nahrungsaufnahme freigesetzt werden und die
Insulinsekretion stimulieren. Das Inkretinmimetikum Exenatide ist ein synthetisches Eiweiß aus 39 Aminosäuren, das subkutan gespritzt werden muss. Das
Peptid ist ausschließlich als Zusatz bei Patienten mit Typ-2-Diabetes zugelassen, bei denen unter der maximalen noch verträglichen Dosis von Metformin
(GLUCOPHAGE u.a.) und/oder eines Sulfonylharnstoffs keine angemessene Blutzuckerkontrolle erreicht werden kann.1 Sitagliptin hemmt dagegen die
Dipeptidyl-Peptidase IV, ein Enzym, das Inkretine wie GLP-1 rasch zu inaktiven Produkten abbaut. Das per os anwendbare Sitagliptin, das als Zusatz zu Metformin
oder einem Glitazon angeboten wird,2 besprechen wir in der nächsten Ausgabe.
EIGENSCHAFTEN: Die Aminosäuresequenz von Exenatide ist teilweise mit der von humanem GLP-1 identisch. Das Mittel
aktiviert den humanen GLP-1-Rezeptor, wodurch Synthese und Sekretion von Insulin glukoseabhängig gesteigert werden. Exenatide unterdrückt
außerdem die bei Typ-2-Diabetes erhöhte Glukagonsekretion und dürfte so die Glukoseabgabe der Leber mindern. Es soll die normale
Glukagonwirkung und andere gegenregulatorische hormonelle Reaktionen auf eine Hypoglykämie jedoch nicht beeinträchtigen. Es verzögert
darüber hinaus die Magenentleerung und soll u.a. durch erhöhtes Sättigungsgefühl die Nahrungszufuhr mindern.1,3 Bei schweren
gastrointestinalen Erkrankungen einschließlich der diabetischen Gastroparese ist Exenatide nicht geprüft und soll hier nicht verwendet werden. Bei Typ-1
-Diabetes und Insulin-pflichtigem Typ-2-Diabetes ist es kontraindiziert.1
Exenatide soll vor der Morgen- und der Abendmahlzeit subkutan gespritzt werden. Etwa zwei Stunden nach Injektion werden Spitzenspiegel im Plasma
erreicht. Das Mittel wird mit einer mittleren Halbwertzeit von etwa zwei Stunden hauptsächlich renal ausgeschieden.1,4 Nach einer Mahlzeit darf
Exenatide nicht angewendet werden.1
Durch die verzögerte Magenentleerung unter Exenatide können Ausmaß und Geschwindigkeit der Absorption von Arzneimitteln gemindert werden.
Die Bioverfügbarkeit des beispielhaft geprüften Parazetamol (BENURON u.a.) sinkt, wenn es gleichzeitig mit oder bis zu vier Stunden nach,
nicht jedoch, wenn es eine Stunde vor Injektion von Exenatide eingenommen wird. Die Empfehlungen der Fachinformation zum Umgang mit dieser
potenziellen Interaktion sind weitgehend unpräzise. Zu den wenigen konkreten Angaben gehört, dass magensaftresistente Zubereitungen, z.B. von
Protonenpumpenhemmern, und Arzneimittel, deren Nutzen im besonderen Maße von Mindestkonzentrationen abhängt, wie hormonelle Kontrazeptiva oder
Antibiotika, mindestens eine Stunde vor der Injektion des Antidiabetikums eingenommen werden sollen, magensaftresistente Zubereitungen auch mindestens
vier Stunden danach.1 Nach der Markteinführung ist unter der Kombination mit Warfarin (COUMADIN u.a.) Zunahme der INR*, also
Wirkungsverstärkung, beobachtet worden, zum Teil mit Blutungen.5 Die Thromboplastinzeit soll bei antikoagulierten Patienten zu Beginn einer
Therapie mit Exenatide und bei Dosissteigerung engmaschig kontrolliert werden.1
KLINISCHE WIRKSAMKEIT: An den drei plazebokontrollierten Phase-III-Studien haben insgesamt 1.446 durchschnittlich 55 Jahre alte Patienten mit
Typ-2-Diabetes teilgenommen, deren HbA1c trotz Einnahme von Metformin (mindestens 1.500 mg pro Tag),6 Sulfonylharnstoffen (z.B. mindestens 6 mg
mikronisiertes Glibenclamid [EUGLUCON N u.a.] pro Tag),7 oder einer Kombination aus beiden8 mindestens 7,1%6,7 bzw. 7,5%8
beträgt (durchschnittlich 8,4%).3 Patienten mit HbA1c oberhalb von 11%, "klinisch bedeutsamen Begleiterkrankungen" oder Gebrauch
anderer Antidiabetika sind ausgeschlossen.6-8 Die Studienteilnehmer haben einen Body-Mass-Index von 27 bis 45, im Mittel von 34. Die durchschnittliche
Diabetesdauer beträgt 7,5 Jahre.3
Die Patienten injizieren (nach einer Phase der Auftitrierung ausschließlich mit der kleineren Dosis) zweimal täglich 5 µg oder 10 µg Exenatide
oder Plazebo zusätzlich zur Einnahme ihrer bisherigen oralen Antidiabetika. Die Abbruchrate ist hoch und unter Plazebo mit 21% bis 40% höher als unter
Verum mit 16% bis 30%.6-8 Dies dürfte besonders in der Plazebogruppe durch Abbruchvorgaben im Protokoll bei Auftreten deutlich erhöhter
Blutzuckerwerte wie HbA1c von mindestens 11,5% mitbedingt sein. Abbruch wegen unerwünschter Wirkungen ist jedoch unter Verum häufiger als unter
Scheinmedikament (4% bis 10% vs. 1% bis 5%).6-8
Die beiden Exenatide-Dosierungen senken das HbA1c in allen drei Studien im Verlauf von sieben Monaten im Vergleich zu Plazebo signifikant: zweimal täglich
5 µg im Mittel um 0,46% bis 0,78%, zweimal täglich 10 µg um 0,86% bis 1,0%.3 Das Körpergewicht nimmt unter Verum in allen drei
Studien ab, unter der niedrigeren Dosierung nicht immer signifikant: Bei kombinierter Auswertung ergibt sich nach sieben Monaten eine durchschnittliche Reduktion
um 1,4 kg unter zweimal täglich 0,5 µg, um 1,9 kg unter zweimal täglich 10 µg und um 0,7 kg unter Plazebo.3
Vergleiche mit Humaninsulin (HUMINSULIN u.a.) finden wir nicht. In zwei offenen Studien über 26 bzw. 52 Wochen sollen zweimal täglich 10 µg
Exenatide dem zur Nacht injizierten Insulin glargin (LANTUS) bzw. dem zweimal täglich gespritzten biphasischen Insulin aspart (30% schnell freisetzend, 70% als
Protamininsulin; NOVOMIX 30) - jeweils als Zusatz zu Metformin und Sulfonylharnstoff - in Bezug auf Senkung des HbA1c gleichwertig sein. In beiden Studien sinkt
in den Exenatidegruppen das mittlere Körpergewicht, während es unter den Insulinanaloga ansteigt, sodass sich am Ende Differenzen von
durchschnittlich 4,1 kg bzw. 5,5 kg ergeben. Die Abbruchrate unter Exenatide ist allerdings in beiden Studien mit 19% bzw. 22% versus 10% bzw. 11% etwa doppelt
so hoch wie unter den Kunstinsulinen, hauptsächlich wegen Unverträglichkeit.9,10
UNERWÜNSCHTE WIRKUNGEN: Sehr häufige Störwirkung ist Übelkeit, die zumindest zeitweise 50% der Patienten betrifft
(Erbrechen 19%).4 Bei fortgesetzter Anwendung sollen Häufigkeit und Schweregrad zwar zurückgehen,4 in den siebenmonatigen
plazebokontrollierten Phase-III-Studien leiden jedoch bei Studienende immer noch rund 10% der Patienten unter Übelkeit.6-8 Gewichtsabnahme unter
Exenatide wird auch bei Patienten ohne Übelkeit beschrieben, ist aber bei denen mit der Störwirkung ausgeprägter (durchschnittlich 2,4 kg vs. 1,7
kg in Studien bis zu einem Jahr).1 4% brechen die Anwendung wegen Übelkeit ab (Erbrechen 1%). 13% klagen über Durchfall. Nach
Markteinführung ist über Dehydratation aufgrund von Übelkeit und Erbrechen oder Durchfall mit Anstieg des Serumkreatinins oder akutem
Nierenversagen berichtet worden.5 Kopfschmerzen, Schwindel, innere Unruhe, Schwäche, vermehrtes Schwitzen, Minderung des Appetits,
Abdominalbeschwerden, Dyspepsie und gastroösophageale Refluxkrankheit kommen in Zulassungsstudien häufig und öfter als in den
Kontrollgruppen vor.1 Mit 5% versus 3% ruft Exenatide signifikant häufiger Reaktionen an der Injektionsstelle hervor als Insulin oder
Plazebo.10 Darüber hinaus sind anaphylaktische Reaktion, Angioödem, Schläfrigkeit, Geschmacksstörung, akute Pankreatitis u.a.
unter Exenatide beschrieben.5
Bei Kombination von Exenatide mit Metformin kommen Hypoglykämien nach bisheriger Erkenntnis nicht häufiger vor als unter Metformin allein
(jeweils etwa 5% im siebenmonatigen plazebokontrollierten Vergleich). Bei Kombination mit einem Sulfonylharnstoff nehmen Unterzuckerungen dagegen
dosisabhängig zu: Von 3% unter Plazebo auf 14% und 36% unter zweimal täglich 5 µg bzw. 10 µg.5-7 Senkung der
Sulfonylharnstoffdosis zu Beginn der Kombinationsbehandlung mindert das Risiko, es bleibt jedoch höher als unter Plazebo.3,8 Zwischen Exenatide
und den Insulinanaloga als Zusatz zu Metformin plus Sulfonylharnstoff besteht in der Hypoglykämierate kein Unterschied (54% vs. 56%).4,9,10
Bei 44% der Anwender in plazebokontrollierten Phase-III-Studien entwickeln sich Antikörper gegen Exenatide, bei 38% mit niedrigen, bei 6% mit hohen Titern.
Bei der Hälfte der Patienten mit hohen Titern ist eine Wirksamkeit von Exenatide nicht mehr erkennbar.1,4
In plazebokontrollierten Studien wird eine etwas höhere Rate schwerwiegender koronarer Komplikationen (0,57% vs. 0,10%) und maligner Tumoren (1,14% vs.
0,41%) unter Exenatide beobachtet. Ein kausaler Zusammenhang der Krebserkrankungen mit dem Mittel gilt zwar als unwahrscheinlich. Das Thema gehört aber
neben kardiovaskulären Komplikationen, Dehydratation und Niereninsuffizienz, Pankreatitis, Wechselwirkung mit Warfarin und dem möglichen
Zusammenhang der Antikörperbildung mit immunogenen Reaktionen zu den offenen Sicherheitsfragen, für die mit der europäischen
Arzneimittelbehörde weitere Abklärung, unter anderem durch gezielte Überwachung nach Markteinführung, vereinbart wurde.4
KOSTEN: Exenatide verteuert die Therapie des Typ-2-Diabetes mit monatlich 125 € bei täglich 20 µg im Vergleich zu humanem Mischinsulin
(30/70; HUMINSULIN PROFIL III, monatlich 26 € bei täglich 25 I.E.) auf knapp das Fünffache.
Das bei Typ-2-Diabetes als Zusatz zu oralen Antidiabetika zugelassene neue
Inkretinmimetikum (Exenatide (BYETTA), das wie Insulin subkutan gespritzt werden muss, senkt das HbA1c mäßig um bis zu 1%.
Bei Kombination mit Metformin (GLUCOPHAGE u.a.) scheinen
Hypoglykämien nicht zuzunehmen, wohl aber deutlich bei Kombination mit einem Sulfonylharnstoff-Antidiabetikum.
Exenatide wird schlecht vertragen. Jeder Zweite klagt unter der Anwendung
über Übelkeit, jeder Fünfte über Erbrechen und jeder Achte über Durchfall. Dehydratation aufgrund von Übelkeit, Erbrechen und
Durchfall, zum Teil mit akutem Nierenversagen, ist beschrieben.
Bei 44% der Patienten entwickeln sich Antikörper gegen Exenatide, die bei
einem Teil derjenigen mit hohen Titern die Wirksamkeit des Mittels aufheben.
Langzeitnutzen und Sicherheit sind offen. Der unter Exenatide beobachtete
Gewichtsverlust ist grundsätzlich wünschenswert. Er beruht aber zum Teil auf der durch das Mittel erzeugten Übelkeit. Er muss zudem im
Gesamtkontext der klinischen Anwendungsfolgen bewertet werden, die mangels kontrollierter Langzeitstudien mit klinischen Endpunkten nicht bekannt sind.
Wir sehen beim derzeitigen Kenntnisstand keine Indikation für das teure
Mittel.
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