* Vorversion am 18. Nov. 2005 als blitz-a-t veröffentlicht.
Die europäische Arzneimittelbehörde EMEA berichtet über zwei Suizide in Verbindung mit der Einnahme des Neuraminidasehemmers Oseltamivir (TAMIFLU).1 Bei den beiden 14 und 17 Jahre alten japanischen Jungen
sind bis zur Anwendung keine Verhaltensauffälligkeiten bekannt. Nach der ersten Dosis springen sie aus dem Fenster beziehungsweise laufen vor ein
Auto.2 Eine Auswertung sämtlicher firmeneigener Sicherheitsdaten durch die EMEA ist geplant.3
Zeitgleich berichtet die amerikanische Arzneimittelbehörde FDA von insgesamt 75 Störwirkungen unter Oseltamivir bei Kindern, darunter 12
Todesfälle in Japan, die der Behörde zwischen März 2004 und April 2005 bekannt wurden. Todesursachen sind unter anderem
Herzkreislaufstillstand (4 Berichte), Suizid (1 Bericht) und plötzlicher Tod (4 Berichte).4,5 Mindestens zwei zusätzliche, ebenfalls in Japan
aufgetretene Todesfälle sind nicht im FDA-Report erwähnt.6 In 32 der FDA vorliegenden Berichten werden neurologische und psychiatrische
Störwirkungen wie Halluzinationen, Verwirrtheit, Krampfanfall und Delir beschrieben, 5 davon nach Einnahme der ersten Dosis. Diese sind teilweise bedrohlich:
Zwei Jungen springen aus dem zweiten Stock, ein weiterer läuft in selbstgefährdender Weise auf die Straße und muss von den Eltern gerettet
werden.5 Darüber hinaus wird über 12 schwere Hautschäden bei Kindern, darunter vier STEVENS-JOHNSON-Syndrome, unter Oseltamivir
berichtet.5
Fast alle Meldungen kommen aus Japan, wo der Großteil der weltweiten Oseltamivir-Produktion verbraucht wird: 33 Millionen Patienten wurden bisher weltweit
mit Oseltamivir behandelt, davon 24 Millionen in Japan.3 Ein Beratergremium der FDA sieht nach einer Bewertung der vorliegenden Berichte am 18.
November dennoch kein Warnsignal.7 Begründet wird dies vor allem mit der in Japan offenbar häufiger beobachteten Influenza-assoziierten
Enzephalopathie, die ebenso wie hohes Fieber als Ursache für neuropsychiatrische Symptome in Betracht kommt. Auch zwischen den Todesfällen und
der Medikamenteneinnahme sieht das Experten-Gremium keinen Zusammenhang.7 Bei einem Teil der verhaltensauffälligen Kinder lag aber kein hohes
Fieber vor, und die Symptomatik unterschied sich deutlich von der in Japan bekannten Enzephalopathie.6 Ein Hinweis auf neuropsychiatrische
Störwirkungen findet sich zwar in der japanischen,3 nicht jedoch in der deutschen Fachinformation.8
Oseltamivir ist hierzulande zur Therapie der Influenza bei Erwachsenen und Kindern ab einem Jahr sowie zur Prophylaxe ab dem 13. Lebensjahr
zugelassen.8 Der bisher in klinischen Studien nachgewiesene Nutzen ist begrenzt: Sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen können die
Symptome einer Influenza lediglich um ein bis eineinhalb Tage verkürzt werden. Eine Senkung der Mortalität ist bisher weder für Kinder noch für
Risikopatienten anhand von kontrollierten Studien belegt (a-t 2005; 36: 62-3).
Die verharmlosenden Bewertungen des Beratergremiums erwecken den Eindruck, als ob im Hinblick auf die Schreckensszenarien einer Vogelgrippe-Pandemie kein
Schatten auf den Neuraminidasehemmer fallen dürfe, -Red
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