Etwa die Hälfte aller Patienten mit einem ersten epileptischen Anfall bleibt rückfallfrei. Das Rezidivrisiko nimmt unter anderem mit der Anzahl
der durchgemachten Anfälle zu. Schon bisher gilt, dass nach einem ersten epileptischen Anfall nicht medikamentös behandelt werden muss. Die
Indikation wird individuell unter Berücksichtigung der Rückfallwahrscheinlichkeit, aber auch der Bedürfnisse des Patienten gestellt.1
Bisherige Studien zum Einfluss der antikonvulsiven Behandlung auf die Prognose einer Epilepsie sind bis auf eine, die das Erreichen einer 2-Jahres-Remission
prüft, kurz.2,3 Eine offen durchgeführte große randomisierte kontrollierte Studie untersucht jetzt erstmals die längerfristigen
Auswirkungen des sofortigen Beginns einer antiepileptischen Therapie im Vergleich mit verzögerter Indikationsstellung.3
1.443 im Median 23 bis 26 Jahre alte Patienten nehmen an der vom britischen Medical Research Council finanzierten Studie teil. Gut die Hälfte hatte vor
Randomisierung einen spontanen Anfall, ein weiteres Viertel zwei, die übrigen mindestens drei, 3% sogar zehn oder mehr Anfälle. In der Mehrzahl handelt
es sich um tonisch klonische (54%) oder sekundär generalisierte tonisch klonische (31%) Anfälle. Bei 16% finden sich generalisierte, bei 27% fokale
epileptiforme Potenziale im EEG. Voraussetzung für die Teilnahme an der Studie ist eine definitive klinische Diagnose. Fieberkrämpfe, akute
symptomatische Anfälle und progrediente Erkrankung gehören zu den Ausschlusskriterien.3
Die Gruppe mit sofortigem Therapiebeginn wird nach Randomisierung so bald wie möglich behandelt, die andere Gruppe erst dann, wenn Arzt und Patient eine
Therapie für erforderlich halten. Auswahl des Antiepileptikums, Dosis und Dauer der Einnahme sind den behandelnden Ärzten überlassen. Die in
beiden Gruppen mit zusammen über 80% meistverordneten Antiepileptika sind Carbamazepin (TEGRETAL u.a.) und Valproat (ERGENYL u.a.). Die Zahl der
antiepileptisch behandelten Patienten nimmt in der Gruppe mit sofortigem Therapiebeginn im Studienverlauf ab, in der anderen Gruppe zu. Nach etwa sieben Jahren
gleichen sie sich bei einer Rate zwischen 40% und 50% einander an, wobei allerdings nur weniger als ein Viertel der Patienten solange nachbeobachtet
wird.3
48% der Patienten erleiden im Nachbeobachtungszeitraum erneut Krampfanfälle, 43% bei sofortiger medikamentöser Einstellung, 53% bei
verzögertem Beginn. Sofortige antiepileptische Therapie verlängert die Zeit bis zum ersten erneuten Anfall signifikant: Die Rezidivrate nach zwei Jahren
beträgt in der Subgruppe mit nur einem initialen Anfall 32% vs. 39% (Number needed to treat [NNT] = 15), in der Subgruppe mit mehreren Anfällen vor
Randomisierung 43% vs. 61% (NNT = 6). Auch die Zeit bis zum zweiten Rezidiv sowie die bis zum ersten tonisch klonischen Anfall wird durch sofortige Behandlung
signifikant verlängert, nicht jedoch die Zeit bis zum fünften Anfall. Der Anteil der Patienten mit Anfallsfreiheit über zwei Jahre ist bei sofortigem
Behandlungsbeginn nach zwei Jahren mit 64% versus 52% signifikant höher als bei verzögertem Behandlungsbeginn. Diese Differenznimmt mit der Zeit
allerdings ebenfalls ab. Nach fünf Jahren sind 76% der sofort behandelten Patienten und 77% in der Gruppe mit verzögerter Therapie seit dem dritten Jahr
nach Randomisierung anfallsfrei.3
Sofortige Therapie geht mit mehr unerwünschten Wirkungen einher (39% versus 31%, Number needed to harm = 13), in erster Linie zentralnervöse und
gastrointestinale Effekte sowie Hautschäden. Todesfälle (4,3% versus 3,2%), Verletzungen und Status epilepticus sind bei sofortiger Behandlung
numerisch häufiger. Die in einer Subgruppe ausgewertete Lebensqualität unterscheidet sich nicht.3
Sofortige antikonvulsive Therapie nach einem oder wenigen ersten epileptischen
Anfällen senkt nach einer Langzeitinterventionsstudie die Rückfallrate in den ersten zwei Jahren im Vergleich mit verzögertem individuell bestimmten
Therapiebeginn.
Auf die langfristige Prognose der Epilepsie hat die sofortige Therapie keinen Einfluss.
Auch im Hinblick auf Komplikationen wie Status epilepticus oder Verletzungen sowie Sterblichkeit besteht nach den Daten der Studie kein Unterschied.
Sofortige antikonvulsive Therapie geht häufiger mit unerwünschten
Effekten einher.
Die Studie bestätigt ein höheres Rückfallrisiko nach mehreren Anfällen im Vergleich zu einem einzelnen initialen Anfall. Weitere
Subgruppenanalysen, die für die differenzialtherapeutische Entscheidung bei erstem epileptischen Anfall herangezogen werden könnten, gibt es
nicht.
Die Frage des Beginns einer antiepileptischen Therapie muss weiterhin auf der Basis
einer individuellen Nutzen-Risiko-Abwägung entschieden werden. Bei Entscheidung gegen eine sofortige Therapie erwächst dem Patienten nach den
neuen Daten langfristig kein Nachteil.
| | (R = randomisierte Studie)
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| 1 | Deutsche Gesellschaft für Neurologie:
Erstmaliger epileptischer Anfall, Juni 2002; zu finden über http://leitlinien.net |
R | 2 | MUSICCO, M. et al.:
Neurology 1997; 49: 991-8 |
R | 3 | MARSON, A. et al.:
Lancet 2005; 365: 2007-132 |
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