Die Ständige Impfkommission (STIKO) empfiehlt die jährliche Influenzaimpfung für Personen über 60 Jahre, alle Bewohner von
Pflegeheimen sowie bei Vorliegen von Grunderkrankungen, die das Risiko für Komplikationen erhöhen. Die Impfung wird auch medizinischem Personal
bzw. Personen, die als Infektionsquellen in Betracht kommen, angeraten.1 In den USA sollen neuerdings unter anderem auch 6 bis 23 Monate alte Kinder
und Schwangere geimpft werden.
Die Zusammensetzung der Impfstoffe folgt den Empfehlungen der WHO, die weltweit Daten von Influenzazentren zur Verbreitung von Virussubtypen
auswertet. Die "trivalenten" Tot-Impfstoffe enthalten in der Regel Bestandteile von zwei Influenza-A-Stämmen und einem Influenza-B-Stamm. Ein
klinisch relevanter Vorteil von adjuvantierten Vakzinen (FLUAD u.a.) ist nicht belegt (a-t 2002; 33: 105-6). In den USA
ist auch ein intranasal anwendbarer Lebendimpfstoff für immunkompetente Personen zwischen 5 und 49 Jahren zugelassen.
Der beste Impfzeitpunkt liegt im Oktober und November, damit während der gesamten Grippeperiode ein ausreichender Impfschutz gewährleistet
ist. Da der Schutz nur eine Saison anhält, sind jährliche Auffrischungen erforderlich.
Ziel der Impfung ist die Verhütung von Grippekomplikationen. Im Vordergrund stehen dabei unter Umständen lebensbedrohlich verlaufende virale
und bakterielle Pneumonien. Asthma bronchiale und chronisch obstruktive Bronchitis können sich verschlechtern. Rhabdomyolyse, Myokarditis und
Enzephalitis sind seltenere schwere Komplikationen. Bei Kindern kann es zu Mittelohrentzündungen kommen.
Deutliche Veränderungen der viralen Antigene (Neuraminidase [N] und Hämagglutinin [H]) des Influenza-A-Virus ("Antigen-Shifting")
führten im 20. Jahrhundert wiederholt zu pandemischem Auftreten von Influenza, zuletzt 1977/78.2 Für die Influenzasaison 2003/04 geht die
Arbeitsgemeinschaft Influenza (AGI) auf Grundlage von Daten aus 818 bundesweiten "Meldepraxen" von 14.000 bis 17.000 zusätzlichen
Krankenhausbehandlungen aus. Durchschnittlich 5.000 bis 8.000 Influenza-bedingte Todesfälle werden während "gewöhnlicher"
Grippewellen in Deutschland erwartet.3 Weltweit rechnet die WHO mit jährlich 250.000 bis 500.000 Todesfällen an Virusgrippe.4 Die
Schätzungen zu grippebedingten Krankenhausbehandlungen und Sterblichkeit sind jedoch unzuverlässig, da diese durch andere virale Erkrankungen
ebenfalls erhöht werden können. 90% aller Todesfälle betreffen Menschen im hohen Lebensalter. Daneben werden Patienten mit kardialen oder
pulmonalen Erkrankungen, Diabetes mellitus oder Immunsuppression sowie Kleinkinder und Schwangere als Risikogruppen für schwere Verläufe und
Komplikationen genannt.5
Der Nutzen der Vakzine hängt generell davon ab, ob die sich ausbreitenden Virusstämme mit den Impfviren übereinstimmen, vom Ausmaß des
Influenzaausbruches sowie vom immunologischen Ansprechen des Geimpften. Gemessen am Antikörpertiter ist der Impfschutz bei Kleinkindern und
älteren Menschen geringer als bei jungen Erwachsenen.5 Im Folgenden besprechen wir die Nutzenbelege bezogen auf Alter und besondere
Risikogruppen.
ÜBER 60-JÄHRIGE: Lediglich eine randomisierte kontrollierte Studie mit 1.838 Personen ab dem 60. Lebensjahr, die nicht als Hochrisikopatienten
gelten, liegt vor.6 Innerhalb von 23 Wochen nach Immunisierung erleiden in der Plazebogruppe 3,4%, in der Verumgruppe 1,8% der Teilnehmer einen durch
den Hausarzt klinisch diagnostizierten "grippalen Infekt" (absolute Risikoreduktion 1,6%, NNT = 63, kein laborchemischer Nachweis von Influenza). Die
Studie ist zu klein, um Auswirkungen auf Komplikationen bzw. Sterblichkeit zu überprüfen. Hierzu finden sich ausschließlich Daten aus Kohorten- und
Fallkontrollstudien. In einer älteren Metaanalyse von 20 Kohortenstudien mit insgesamt ca. 30.000 fast ausschließlich im Heim lebenden
Teilnehmern wird ein günstiger Einfluss auf die Pneumonierate (Relative Risikoreduktion [RRR] 53%, 95% Konfidenzintervall [CI] 35% bis 66%),
Krankenhauseinweisungen (RRR 50%; 95% CI 28% bis 65%) und die Mortalität (RRR 68%, 95% CI 56% bis 76%) errechnet.7
Ein weiteres systematisches Review wertet Daten aus 15 (überwiegend epidemiologischen) Untersuchungen aus, die nur selbstständig lebende
Personen ab dem 65. Lebensjahr einschließen.8 In dieser wegen Mängeln in der Darstellung unbefriedigenden Metaanalyse ergibt sich eine
Senkung der Hospitalisationsrate aufgrund von Lungenentzündung oder Grippe um 33% (95% CI 27% bis 38%) und der Gesamtsterblichkeit um 50% (95% CI
45% bis 56%). Eine neuere Kohortenstudie mit insgesamt 17.800 Teilnehmern aus den Niederlanden bestätigt diese Daten zwar in der Tendenz, kommt aber zu
einer geringeren Risikominderung: In der Gruppe der Geimpften beträgt die Gesamtsterblichkeit 3,3 pro 100 Patientenjahre gegenüber 3,8 bei den
Ungeimpften (RRR nach Adjustierung 24%; 95% CI 3% bis 40%). Patienten mit Begleiterkrankungen scheinen deutlicher zu profitieren. Bei steigendem Lebensalter
nimmt der Nutzen hingegen ab.9
Kohortenstudien beinhalten immer das Risiko von Verzerrungen, sodass die Effekte auf Sterblichkeit und Komplikationen möglicherweise überschätzt
werden (z.B. "Selektionsbias": Gesündere bzw. gesundheitsbewusste Patienten lassen sich häufiger impfen). In einer Erhebung aus
Großbritannien, in der die Sterbedaten von 24.535 über 75-jährigen Patienten über einen Zeitraum von mehr als 4,5 Jahren ausgewertet
werden, wird versucht, dieses Problem zu umgehen.10 Während der Grippewellen steigt die Gesamtsterblichkeit in der Gruppe der Ungeimpften von
9,4% auf 13,9%, geringer hingegen bei den Geimpften (von 7,7% auf 9,7%). Die unterschiedlichen "Basisrisiken" sind in der statistischen Auswertung
bereits berücksichtigt. Die Autoren errechnen eine relative Risikoreduktion Influenza-bedingter Todesfälle durch die Impfung um 83%, ein
angesichts des weiten Vertrauensbereichs (95% CI 9% bis 100%) jedoch "unscharfes" Resultat.
MITARBEITER IM GESUNDHEITSWESEN: In einer randomisierten plazebokontrollierten Studie senkt die Impfung von 264 Pflegekräften bzw.
Krankenhausärzten in drei Winterperioden die Rate routinemäßig erfasster, serologisch nachgewiesener Influenzainfektionen bei den Geimpften
(Influenza A: 8,9% versus 1,1%; Influenza B: 5,0% vs. 0,6%). Die Gesamtzahl der Tage mit fieberhaften Infektionen und die durchschnittliche
Arbeitsunfähigkeitsdauer werden nicht beeinflusst.11
In einer schottischen Studie an 20 geriatrischen Kliniken wird randomisiert in zehn Krankenhäusern ein Impfprogramm für die Mitarbeiter angeboten, in den
anderen zehn jedoch nicht. Bei den 749 Patienten der "Impf-Krankenhäuser" liegt die Sterblichkeit nach sechs Monaten niedriger als bei den 688
Patienten der "Nicht-Impf-Krankenhäuser" (13,6% versus 22,4%). Nach Adjustierung für verschiedene Einflussfaktoren ergibt sich jedoch nur
noch ein Trend. Zudem unterscheidet sich die Häufigkeit von Influenzainfektionen bei den Patienten nicht. Auch hat ihr Impfstatus keinen Einfluss auf die
Mortalität.12 Die Ergebnisse entsprechen weitgehend denen einer früheren identisch konzipierten Pilotstudie der gleichen
Arbeitsgruppe.13
KINDER: Obwohl in Leitlinien Kleinkinder als Risikogruppe genannt werden14 und während pandemischer Grippewellen die Mortalität in
dieser Altersstufe steigt,15 ist das Risiko schwerer Krankheitsverläufe nur unpräzise abschätzbar. Auch in neueren Erhebungen, in denen
Influenza-bedingte Krankenhausaufnahmen untersucht werden,16,17 lässt sich der Einfluss anderer Infektionen, die oft zeitgleich und mit hoher
Inzidenz bei Kindern auftreten (zum Beispiel durch RS [Respiratory syncytial]-Viren), nur teilweise ausschließen. Das aus diesen Untersuchungen berechnete
erhöhte Risiko für Krankenhauseinweisungen wegen Virusgrippe (z.B. bei gesunden Kindern unter zwei Jahren pro Monat 2 je 1.00017)
dürfte daher überschätzt sein.18
Durch Laboruntersuchungen bestätigte Influenzainfektionen lassen sich gemäß einer kontrollierten Studie durch Impfung im Kindesalter
verringern.15 Vakzination von Kindern in Tagesstätten senkt die Rate von Influenzainfektionen bei deren Haushaltsangehörigen.19 Ein
Einfluss auf Komplikationen ist hingegen nicht ausreichend belegt. In der methodisch besten randomisierten kontrollierten Studie zu dieser Fragestellung mit mehr als
750 Kindern zwischen sechs Monaten und zwei Jahren lässt sich kein Einfluss auf Häufigkeit oder Schweregrad von Mittelohrentzündungen
feststellen.20 Kleinere methodisch schwache Studien legen dagegen einen protektiven Effekt der Impfung nahe. Valide Studien zum Einfluss auf
Krankenhausaufnahmen oder Mortalität finden wir nicht.
RISIKOGRUPPEN: Nur wenige randomisierte Interventionsstudien schließen Patienten mit chronisch obstruktiver Lungenerkrankung (COPD)
ein. Sie erlauben wegen kleiner Fallzahlen keine Aussage über die Reduktion von Influenzakomplikationen.21 In einer Kohortenstudie mit ca. 1.900
Patienten werden Krankenhausaufenthalte wegen Lungenentzündung oder Influenza relativ um 52% vermindert (95% CI 18% bis 72%). Die Mortalität wird
während der drei ausgewerteten Winter um 70% (95% CI 57% bis 79%) reduziert.22
Ungünstig ist die Datenlage für Patienten mit Asthma bronchiale. Zwar weist eine Cross-over-Studie mit mehr als 2.000 Asthmakranken darauf hin,
dass entgegen den Ergebnissen kleinerer Arbeiten die Impfung selbst nicht zu einer Häufung von Asthmaanfällen bzw. Verschlechterung der
Lungenfunktion führt.23 Ein Nutzen hinsichtlich Senkung von Asthmaanfällen bzw. Komplikationen während der Grippesaison ist jedoch
nach einer Metaanalyse kontrollierter Studien unzureichend belegt.24 In zwei aktuellen randomisierten kontrollierten Studien, eine davon mit 6 bis 18 Jahre
alten Kindern und Jugendlichen, ergibt sich kein Einfluss auf Häufigkeit oder Schwere influenzabedingter Asthmaattacken.25,26 Nach einer
retrospektiven Kohortenstudie mit 800 Asthmakindern verdoppelt sich bei geimpften Kindern im Jahr nach der Impfung das Risiko, wegen Asthmabeschwerden
notfallmäßig einen Arzt aufzusuchen gegenüber ungeimpften Gleichaltrigen (Odds Ratio 2,0; 95% CI 1,2 bis 3,1).27
Aus Fallkontrollstudien stammen Hinweise auf eine Assoziation zwischen Impfung und verringerter Rate von Schlaganfällen28 und
Herzinfarkten29 bei Risikopatienten. In einer plazebokontrollierten Studie werden 305 Patienten mit akutem Herzinfarkt oder geplanter Angioplastie
untersucht. In der Impfgruppe sind nach sechs Monaten 2% an kardiovaskulären Ursachen verstorben, unter Plazebo 8%.30 Der Unterschied ist auch
nach einem Jahr noch nachweisbar (6% versus 17%).31 Das Ergebnis der als Pilotstudie angelegten Untersuchung bedarf der Bestätigung.
Zum Nutzen der Impfung bei Diabetikern finden wir nur eine Fallkontrollstudie mit 240 Patienten. Nach Adjustierung für bekannte
Störgrößen wird eine relative Reduktion der Krankenhauseinweisungen wegen Atemwegsinfekten oder Diabeteskomplikationen um knapp 80%
errechnet (95% CI 19% bis 95%).32
Obwohl die Impfantwort bei HIV-Patienten schlechter ist, insbesondere bei niedriger CD-4-Zellzahl, erleiden in einer randomisierten Studie mit 102 HIV-
infizierten Patienten weniger Studienteilnehmer nach Grippeimpfung einen Atemwegsinfekt als Ungeimpfte (29% versus 49%).33 Der Einfluss auf den Verlauf
der HIV-Infektion ist nicht geklärt: Verschiedene Studien beschreiben einen Anstieg von Viruslast und Abfall der CD-4-Zellzahl nach Impfung,34 andere
nicht.33,35 Nicht untersucht sind Auswirkungen auf Komplikationsraten und Mortalität.
GESUNDE ERWACHSENE: Eine systematische Übersicht wertet Daten aus 25 überwiegend randomisierten Interventionsstudien mit knapp
60.000 gesunden Personen zwischen 15 und 65 Jahren aus. Das relative Risiko einer klinisch gestellten Diagnose "Grippe" sinkt zwar in
Abhängigkeit von den dafür zugrunde gelegten Kriterien um rund ein Viertel. Ein Einfluss auf die in dieser Altersgruppe extrem selten auftretenden
Komplikationen oder die Zahl der Krankheitstage mit Arbeitsunfähigkeit lässt sich jedoch nicht belegen.36
STÖRWIRKUNGEN: Lokale Reaktionen an der Injektionsstelle sind häufig und betreffen 10% bis 64% der Patienten. Systemische Effekte mit
Fieber, Krankheitsgefühl und Muskelschmerzen treten vor allem bei Erstimmunisierung auf und halten für ein bis zwei Tage an. Selten kommt es zu akuten
allergischen Reaktionen. Hühnereiweißallergie ist eine Kontraindikation gegen die Impfung.4 Nach einer Beobachtungsstudie könnte das
Risiko eines GUILLAIN-BARRÉ-Syndroms nach Influenzaimpfung um eine zusätzliche Erkrankung je 1 Million Impfungen ansteigen.37
Nach Daten aus Kohorten- und Fallkontrollstudien reduziert die Impfung gegen
Virusgrippe (BEGRIVAC u.a.) Komplikationen bei älteren Patienten und senkt die Sterblichkeit um 25% bis 80%. Aufgrund der für Verzerrung
anfälligen Methodik dieser epidemiologischen Studien ist eine systematische Überschätzung des wahren Effektes möglich.
Randomisierte Interventionsstudien deuten eine Senkung der Mortalität bei
geriatrischen Patienten an, wenn Krankenhausmitarbeiter systematisch geimpft werden. Ob die zur Absicherung dieses Effekts erforderlichen Studien allerdings
jemals durchgeführt werden, erscheint angesichts der geltenden Impfempfehlungen fraglich.
Die Impfung reduziert nach randomisierten Studien die Häufigkeit von
Influenzaerkrankungen im Kindesalter. Daten, die einen Einfluss auf schwere Verläufe, Mortalität oder Komplikationen belegen, liegen nicht vor.
Nur einzelne Beobachtungs- bzw. Fallkontrollstudien legen einen Einfluss der
Influenzaimpfung auf schwere Krankheitsverläufe bei Diabetes mellitus und COPD nahe. Keine Belege finden wir für eine Komplikationssenkung bei
Patienten mit Asthma bronchiale und HIV-Infektion.
Dass die Impfung gesunder Kinder, Jugendlicher und Erwachsener unter 60 bis 65
Jahren ohne Risikofaktoren die ohnehin seltenen Komplikationen reduziert, ist nicht belegt.
|