In a-t 2003; 34: 100-2 beschrieben wir den Stand der Kenntnis zum Nutzen der Vitamine A, C und E sowie
Betakarotin bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Krebs. Im Folgenden stellen wir die Datenlage bei ophthalmologischen Erkrankungen und Infekten dar. Wie schon
im ersten Teil bevorzugen wir dabei randomisierte kontrollierte Studien mit klinischen Endpunkten. Allerdings wird in fast allen Untersuchungen zu
Augenerkrankungen primär ein Surrogatparameter analysiert (z.B. prozentuale Zunahme der Linsentrübung in der Spaltlampenuntersuchung bei Katarakt
oder ophthalmoskopischer Nachweis von Gefäßneubildungen bei altersbedingter Makuladegeneration). Lediglich in der AREDS-Studie1,2 wird
zusätzlich als primärer klinischer Endpunkt die Sehschärfe bestimmt (siehe Tabelle).
AUGENERKRANKUNGEN: Zwei Studien1,3 prüfen den Nutzen hoher Dosierungen von Vitamin C plus Vitamin E plus Betakarotin auf
Entwicklung oder Fortschreiten einer Katarakt. In AREDS1, der mit 4.629 Teilnehmern deutlich größeren der beiden
Untersuchungen, beeinflussen die Vitamine mit und ohne zusätzliche Einnahme von Zink (faktorielles Design, siehe a-t 2003; 34: 100) weder die Rate an Neuerkrankungen noch die Zunahme einer Linsentrübung oder die
Häufigkeit einer Katarakt-Operation. Auch hinsichtlich des klinischen Endpunkts Verschlechterung der Sehschärfe um mindestens 50% finden sich in einer
prädefinierten Untergruppe von 1.117 Patienten ohne zusätzliche Zeichen einer altersbedingten Makuladegeneration keine Unterschiede zwischen den
Behandlungsarmen (Odds Ratio [OR] 1,03, 99% Konfidenzintervall [CI] 0,63-1,66). Die Autoren der kleinen, von Roche gesponserten REACT*-
Studie3 behaupten für ihre Vitaminkombination (750 mg Vitamin C plus 600 mg Vitamin E plus 18 mg Betakarotin) dagegen eine im Vergleich zu
Plazebo langsamere Katarakt-Progression. Die Studie ist jedoch unbrauchbar, da die Hauptanalyse lediglich auf 158 (53%) der ursprünglich randomisierten 297
Patienten basiert, die Laufzeit nachträglich verlängert wurde (unter anderem wegen fehlender Signifikanz des Ergebnisses) und das geplante
Signifikanzniveau von 0,01 auch nach drei Jahren verfehlt wird. Ein Effekt auf die Sehschärfe lässt sich nicht nachweisen. In der Vitamingruppe sterben 9
Personen (6%) gegenüber 3 (2%) unter Plazebo (p = 0,07). In einer Nachauswertung der Physicians'-Health-Study (PHS)4 bleibt die
zwölfjährige Einnahme von 50 mg Betakarotin jeden zweiten Tag ebenfalls ohne Einfluss auf Entwicklung (9,5% vs. 9,7% unter Scheinmedikament) oder
Operationshäufigkeit (5,6% vs. 5,7%) eines grauen Stars, der das Sehvermögen beeinträchtigt.
Auch bei altersbedingter Makuladegeneration (AMD) fehlt ein klarer Nutzenbeleg der Vitamine: In der oben erwähnten AREDS-
Studie2 wird gleichzeitig geprüft, ob die Einnahme von Vitamin C plus Vitamin E plus Betakarotin und/oder Zink die Progression einer AMD im
Frühstadium oder eine Verschlechterung des Visus aufhalten kann. Patienten mit allenfalls leichten Augenhintergrundveränderungen (Stadium I, keine
oder wenige kleine Drusen) waren von diesem Teil der Untersuchung ausgeschlossen, weil ihr Risiko eines AMD-bedingten Sehverlustes gering ist. In der als
vorrangig definierten Analyse der Behandlungsarme (z.B. Vitamine vs. keine Vitamine) lässt sich für keine der Interventionen ein Vorteil nachweisen.
Nur bei getrennter Auswertung der vier Gruppen ergibt sich ein positiver Effekt bei gleichzeitiger Einnahme von Zink und Vitaminen gegenüber
Scheinmedikament hinsichtlich des ophthalmoskopischen Fortschreitens der AMD (OR 0,72, 99% CI 0,52-0,98). Ein Einfluss auf die Sehschärfe lässt sich
auch in dieser Analyse nicht feststellen. Patienten mit geringen Augenhintergrundveränderungen (Stadium II, keine großen Drusen oder landkartenartige
Atrophie) profitieren überhaupt nicht. Somit fehlt für die Mehrheit (etwa 80% der über 70-jährigen US-Amerikaner lassen sich den AMD-Stadien I
und II zuordnen) ein Nutzenbeleg. Die Autoren selbst bezeichnen den Behandlungseffekt als "bescheiden".2 In der VECAT-
Studie5 bleibt die Einnahme von Vitamin E ohne Vorteil hinsichtlich Diagnosehäufigkeit einer AMD im Frühstadium. Auch in Bezug auf
Visusveränderungen unterscheiden sich die Behandlungsgruppen nicht. Vermutlich war das Studienziel - Halbierung der AMD-Inzidenz - unrealistisch und die
Untersuchung zu klein, um einen geringeren Effekt nachweisen zu können.6
In einer Studie7 wird der Nutzen von Vitamin A allein oder in Kombination mit Vitamin E bei Retinitis pigmentosa geprüft. Unter Vitamin A
nimmt die Amplitude im Elektroretinogramm (ERG, primärer Endpunkt) langsamer ab als ohne das Vitamin. Vitamin E scheint sich dagegen eher negativ
auszuwirken. Die Bedeutung von ERG-Veränderungen ist jedoch umstritten.8 Für die Betroffenen wichtige klinische Endpunkte, beispielsweise
Sehschärfe oder Gesichtsfeldeinschränkungen, werden durch die Vitamine nicht beeinflusst. Mit dieser Studie, deren Interpretation durch die Autoren
auch von mehreren Mitgliedern des eigenen Sicherheits- und Überwachungskomitees kritisiert wurde,9,10 lässt sich ein Nutzen von Vitamin A bei
Retinitis pigmentosa nicht belegen.
INFEKTIONEN: 1971 empfahl Linus PAULING auf der Basis von vier Studien, täglich 1 g bis 3 g Vitamin C einzunehmen, da sich damit die
Häufigkeit von Erkältungen halbieren lasse und deren Schwere deutlich reduziert werde. In der Folge wurde eine Vielzahl kontrollierter Studien mit
Askorbinsäure in hoher Dosis durchgeführt. Die Autoren mehrerer Übersichten aus den 70er und 80er Jahren konnten keine wesentlichen Effekte
des Vitamins auf Vorbeugung oder Behandlung eines Infekts der oberen Luftwege feststellen.11
Nach einer neueren Metaanalyse der sechs größten randomisierten plazebokontrollierten Studien bleibt die regelmäßige Einnahme von
mindestens 1 g Vitamin C täglich ohne Einfluss auf die Häufigkeit von Erkältungen.12 Ein COCHRANE-Review11, in das 30
Studien eingehen, die anhand zweier älterer systematischer Übersichten identifiziert wurden und nur zum Teil randomisiert sind, weist in dieselbe Richtung:
Weder für Dosierungen über 1 g Vitamin C pro Tag noch für geringere Mengen lässt sich ein Effekt auf die durchschnittliche Anzahl an
Erkältungsepisoden pro Person nachweisen. Dagegen scheint sowohl die prophylaktische Einnahme von mindestens 1 g Askorbinsäure pro Tag
über einen längeren Zeitraum als auch die ausschließliche Anwendung während eines Infekts die Erkrankungsdauer (mittlere Zahl der
Krankheitstage pro Episode) um etwas weniger als einen halben Tag zu verkürzen.11 Dieses Ergebnis ist zwar statistisch signifikant, unseres
Erachtens aber ohne klinische Relevanz. Der vermeintliche Nutzen ist zudem in Studien geringerer Qualität ausgeprägter und lässt sich auch durch
ein Publikations-Bias (seltenere Veröffentlichung von Negativuntersuchungen) erklären.11
Eine neuere Studie13 mit 168 Teilnehmern, in der die zweimonatige Einnahme von täglich 1 g Vitamin C die Zahl der Erkrankungen und die Dauer
schwerer Erkältungsbeschwerden verringert, bleibt wegen erheblicher Qualitätsmängel (keine Intention-to-treat-Analyse u.a.) ohne Aussagekraft.
Gleiches gilt für eine weitere Studie14 mit 323 Personen, nach der die therapeutische Anwendung verschiedener Dosierungen von Askorbinsäure
Schwere und Dauer eines Atemwegsinfekts nicht beeinflusst.
Auch hoch dosiertes Vitamin E beeinflusst in einer Studie15 die Häufigkeit von Atemwegsinfekten nicht. Patienten der Behandlungsgruppe
sind aber länger krank (19 vs. 14 Tage), haben häufiger Fieber (37% vs. 25%) und sind eher in ihren täglichen Aktivitäten beeinträchtigt
(52% vs. 41%, vgl. a-t 2002; 33: 95).
In sechs Studien15-20 wird der Nutzen von Multivitaminen (Vitamin A oder Betakarotin plus Vitamin C und Vitamin E, zum Teil kombiniert mit
weiteren Vitaminen und/ oder Mineralstoffen) auf verschiedene Infektionen geprüft. Die Ergebnisse sind widersprüchlich. Die größten
Untersuchungen kommen zu negativen Resultaten. Auch in Studien, in denen ein Teil der Teilnehmer eingangs eher niedrige Vitaminspiegel aufweist, lässt sich
kein klarer Nutzen belegen. Viele der Untersuchungen weisen deutliche Qualitätsmängel auf: Beispielsweise wird in der Studie von BARRINGER et
al.16 der ursprünglich gewählte Endpunkt "durchschnittliche Anzahl infektbedingter Krankheitstage pro Jahr" fallengelassen, da ein
Drittel der Teilnehmer nicht erkrankt (und sich daher vermutlich kein Vorteil feststellen lässt). Zudem erweist sich in dieser Untersuchung die Verblindung als
untauglich.
Die Einnahme hoher Dosierungen von Betakarotin oder der Vitamine A, C und E,
allein oder in Kombination, kann eine Verschlechterung des Sehvermögens bei Katarakt, altersbedingter Makuladegeneration (AMD) oder Retinitis pigmentosa
nicht aufhalten.
Eine verzögerte ophthalmoskopische Progression ist nur bei fortgeschrittener
AMD und nur für die kombinierte Anwendung von Vitaminen mit Zink beschrieben.
Hoch dosiertes Vitamin C bleibt ohne Einfluss auf die Häufigkeit von
Erkältungen. Die in einer auch Studien geringer Qualität einschließenden Metaanalyse gefundene Verkürzung der Erkrankungsdauer um
weniger als einen halben Tag ist klinisch unbedeutend. Unter Vitamin E scheinen Atemwegsinfekte sogar schwerer zu verlaufen.
Für die kombinierte Einnahme von Vitaminen zur Vorbeugung oder Behandlung
von respiratorischen, urologischen und anderen Infektionen fehlt ebenfalls ein klarer Nutzenbeleg.
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