Verkehrte Welt: Hersteller rezeptfreier Arzneimittel stellen seit einigen Monaten Anträge auf Neuzulassungen. Galt jahrzehntelang der rezeptfreie
OTC (Over The Counter)-Status als lukrativ, sollen jetzt Veränderungen von Dosis, Indikationen und Risikoangaben Produkte wieder unter die
Verschreibungspflicht bringen. Die Hersteller versuchen damit, die ab 1. Januar 2004 geltenden Regelungen der Gesundheitsreform zu unterlaufen.
Wenn ab Januar die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) nur noch verschreibungspflichtige Arzneimittel erstattet (Ausnahmen sollen bis 1. April 2004
festgelegt werden), mag dies für Verwaltungsbeamte bequem sein. Mit Sicherung der Therapiequalität hat eine solche Regelung jedoch nichts zu tun. Im
Gegenteil: Etablierte Therapiestrategien werden umgekrempelt. Ausweichen auf fragwürdige beziehungsweise medizinisch unsinnige, aber
erstattungsfähige Produkte droht. Dabei geht es nicht um die von Interessenvertretern häufig erwähnten "Forte"-Verordnungen, etwa
eines Benzodiazepins statt Baldrian. Hier wäre Verzicht auf die medikamentöse Therapie nach entsprechender Aufklärung der Patienten die
Strategie der Wahl. Es ist aber zu befürchten, dass aus Gründen fehlender Erstattungsfähigkeit von bewährten, gut verträglichen und
daher rezeptfreien Mitteln auf weniger erprobte verschreibungspflichtige und teurere Produkte ausgewichen wird, beispielsweise von Antihistaminika wie Loratadin
(LORANO u.a.) auf Desloratadin (AERIUS) oder von Clotrimazol-Vaginalzubereitungen (CANESTEN GYN 1 oder 3 u.a.) auf Varianten vom Typ Oxiconazol
(MYFUNGAR). Das Firmen-Marketing reagiert prompt: Fast vergessene Altprodukte wie die Oxytetracyclin-Myrtol-Kombination TETRA-GELOMYRTOL werden jetzt
wieder beworben: "Die verschreibungspflichtige Alternative"1. Und Henning propagiert jetzt statt Jodid die "erstattungsfähige"
verschreibungspflichtige Jodid-Schilddrüsenhormon-Kombination THYRONAJOD.2 Der Aufruf der Bundesgesundheitsministerin an Ärzte,
weiterhin rezeptfreie Medikamente zu verordnen, auch wenn diese nicht mehr von den Kassen erstattet würden,2 erscheint uns angesichts der
administrativ induzierten Umschichtungen als hilfloser Appell.
Etablierte Strategien für kostengünstige Behandlungen werden nach dem Jahreswechsel ins Leere laufen. Das gesamte Arzneimittel-Preisgefüge
wird umstrukturiert. Statt der degressiven Arzneipreisberechnung - höhere Handelsspanne bei niedrigem Einkaufspreis und geringerer Aufschlag bei
höherem Einkaufspreis - sollen in den Apotheken künftig generell 3% auf den Einkaufspreis verschreibungspflichtiger Produkte aufgeschlagen werden
plus ein Festzuschlag von 8,10 € (zuzüglich 16% MwSt., abzüglich Rabatt von 2 € für GKV). Durch diesen Systemwechsel werden bislang
preiswerte Arzneimittel - beispielsweise Augenmittel - beträchtlich teurer. Heute noch teure Produkte werden etwas preisgünstiger, z.B. AIDS-Mittel und
viele Antibiotika (s. Tabelle, Beispiel 1). Die Preise rezeptfreier Medikamente für die Selbstmedikation dürfen demnächst in den Apotheken frei
kalkuliert werden.
Auch die Umstellung der Preisberechnung dürfte einschneidene Konsequenzen für therapeutische Entscheidungen haben. Durch den Festaufschlag wird
vor allem im unteren Preisbereich der Preisabstand zwischen Klein- und Großpackungen unscheinbar. Ein Trend zu Großpackungen und damit zu
noch mehr Arzneimittelmüll ist absehbar, da sich Sparsamkeit durch Kleinpackungen nicht mehr rechnet (s. Tabelle, Beispiel 2) und pro Arzneimittel mindestens
5 € Selbstbeteiligung fällig werden (10% des Preises, aber mindestens 5 € und maximal 10 €).
Auch der Abstand zwischen teuren Originalen und preiswerten Generika schrumpft (s. Tabelle, Beispiel 3). Entsprechend versucht die Firma Aventis das im
Vergleich zum Ramipril-Original DELIX 22% preisgünstigere RAMIPRIL HEXAL auszubremsen, indem sie bereits seit November auf die Preissenkung im Januar
hinweist: "Weitere Preissenkung 2004".4 Ein billiges Versprechen für Aventis, da die Preise der meisten DELIX-Zubereitungen ab Januar
ohne Absenkung des Herstellerabgabepreises durch die geringere Handelsspanne sinken werden. Ob das Versprechen jedoch auch für die Packungen mit 2,5
mg gelten wird? 20 Tabletten zu 2,5 mg kosten derzeit 15,20 €. Wegen der durch den Festaufschlag bedingten Verteuerung der Arzneimittel im
Niedrigkostenbereich müsste Aventis den Apothekeneinkaufspreis um 4 € senken, damit der Apothekenverkaufspreis ab Januar wenigstens 1 Cent unter
dem heutigen Preis liegt. Da sind wir gespannt.
Arzneimittel können aus der Verschreibungspflicht entlassen werden,
wenn sie sich als anwendungssicher erwiesen haben. Sobald ab Januar 2004 im Wesentlichen nur noch rezeptpflichtige Medikamente von der GKV erstattet
werden, sind Ausweichverordnungen auf neuere bzw. schlechter verträgliche und oft teurere Alternativen zu erwarten. So mindert die Reform die Qualität
der Therapie.
Die erhoffte Kostensenkung wird sich nicht realisieren lassen. Das sinnvolle
Steuerungsinstrument der Positivliste, die eine Begrenzung der Erstattung auf Mittel mit positiver Nutzen-Schaden-Bilanz ermöglicht hätte, ist schon
frühzeitig politisch geerdet worden (a-t 2001; 32: 37).
Die Preise vieler rezeptpflichtiger Arzneimittel werden künftig wesentlich durch
den festen Apothekenaufschlag von 8,10 € bestimmt. Bislang niedrigpreisige Medikamente werden dadurch deutlich teurer und teure etwas billiger. Vor allem im
unteren Preisbereich wird die Kostendifferenz zwischen Klein- und Großpackungen sowie zwischen Original und Generikum schrumpfen.
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