In etwa jeder zweiten Familie, deren Angehörige in jungen Jahren oder ohne begünstigende Umstände wie Operationen an tiefen
Venenthrombosen erkranken, findet sich eine vor drei Jahren erstmals beschriebene Gerinnungsstörung: Resistenz gegen das antikoagulatorische aktivierte
Protein C (APC). Zu 95% beruht diese auf einer Störung des Faktor-V-Gens. Die nach der niederländischen Universitätsstadt Leiden, dem Ort ihrer
Entdeckung, auch Faktor V Leiden genannte Punktmutation erschwert den Abbau des Gerinnungsfaktors V durch APC. Diese häufigste erbliche Ursache tiefer
Venenthrombosen kommt fast ausschließlich in der weißen Bevölkerung vor mit regionalen Unterschieden bei durchschnittlich
5%.1,2
Heterozygote Träger des Faktor V Leiden haben ein 5- bis 10fach erhöhtes Thromboserisiko, homozygote (bis 4% der Träger in Europa)2 ein
50- bis 100faches.3 Nehmen betroffene Frauen orale Kontrazeptiva, scheint sich der thrombogene Effekt der Hormone mit dem der Erbanlage nicht zu
addieren, sondern zu multiplizieren.1 Nach zwei Fall-Kontroll-Studien steigt das relative Risiko bei heterozygoten Frauen auf das 35- bis 50fache, bei
homozygoten wahrscheinlich auf mehr als das 100fache.1,3-5 Unter 450 jungen Frauen mit der Faktor-V-Mutation verursachen östrogenhaltige orale
Verhütungsmittel demnach eine zusätzliche tiefe Venenthrombose pro Jahr. Mit der Folge einer tödlichen Lungenembolie wird bei jährlich 1% bis
2% der Betroffenen gerechnet.1
Tiefe Venenthrombosen in der Vorgeschichte galten schon vor Entdeckung der erblichen Neigung als Gegenanzeige für die Einnahme östrogenhaltiger
Kontrazeptiva. Vor allem bei idiopathischen Phlebothrombosen, Lungenembolien und nach tiefen Thrombosen im ersten Anwendungsjahr von Östrogen-
Gestagen-Kombinationen ist dringend von dieser Verhütungsmethode abzuraten. Wird vor der ersten Verschreibung der "Pille" gezielt nach
familiärer Häufung venöser Thrombosen gefragt, lassen sich weitere gefährdete Frauen eingrenzen. Neben der APC-Resistenz kommen auch
seltenere genetische Ursachen der Thrombophilie wie Mangel an Protein S, Protein C oder Antithrombin III familiär gehäuft vor. Mangel an Hemmstoffen
der Gerinnungskaskade dürfte das Thromboembolierisiko unter oralen Kontrazeptiva ähnlich potenzieren wie die Faktor-V-Leiden-Mutation.1
Nach norwegischen Richtlinien sollen Frauen, in deren naher Verwandtschaft thromboembolische Ereignisse vorgekommen sind, keine östrogenhaltigen
Kontrazeptiva einnehmen.6 Die gleichen Vorbehalte gelten nach heutigem Kenntnisstand auch für die hormonelle Substitution (a-t 11 [1996], 105) in
und nach den Wechseljahren. Auch hier fällt eine Häufung von Gefäßverschlüssen schon nach kurzer Hormoneinnahme
auf.7
Generelles Screening auf APC-Resistenz vor Verordnung der "Pille" erfordert erhebliche Aufwendungen. 9.000 junge Frauen* müßten auf die
Gerinnungsstörung untersucht werden, um eine Beinvenenthrombose zu verhindern, 900.000, um eine tödliche Lungenembolie abzuwenden. Doch
solche Berechnungen schüren zu hohe Erfolgserwartungen. Für Frauen mit positiver Familien- bzw. Eigenanamnese erübrigt sich das Screening, da
selbst bei negativem Ergebnis von der Verordnung der "Pille" abzuraten ist. Wieviel Frauen jedoch trotz unauffälliger Vorgeschichte
Trägerinnen der APC-Resistenz sind und durch Screening zusätzlich erfaßt werden könnten, bleibt offen.
FAZIT: Rund 5% der europäischen Bevölkerung trägt eine erbliche Gerinnungsstörung, die zu venösen Thrombosen
prädisponiert: Resistenz gegen das antikoagulatorische aktivierte Protein C (Faktor V Leiden). Frauen mit diesem Erbmerkmal sollen keine östrogenhaltigen
Kontrazeptiva einnehmen, die ihr Thromboserisiko vervielfachen. Gleiches gilt für den Gebrauch von Hormonen in und nach den Wechseljahren. Ein generelles
Screening auf die Punktmutation des Gerinnungsfaktors läßt sich beim gegenwärtigen Kenntnisstand nicht rechtfertigen. Vorrang hat die
sorgfältige Erhebung der Anamnese einschließlich der von Familienangehörigen. Diese hilft, thromboemboliegefährdete Frauen zu
erkennen.
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Bei einem Preis von 50 DM pro APC-Resistenz-Test wären Kosten von 450.000 DM pro verhinderte Venenthrombose zu
veranschlagen vorausgesetzt, der Test würde alle Betroffenen zuverlässig erfassen. Ein Bestätigungstest, der den Genotyp analysiert,
schlägt mit etwa 350 DM pro Untersuchung zu Buche.
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1 |
VANDENBROUCKE, J. P. et al.: Brit. Med. J. 313 (1996), 1127 |
2 |
REES, D. C. et al.: Lancet 346 (1995), 1133 |
3 |
DAHLBÄCK, B.: Lancet 347 (1996), 1346 |
4 |
VANDENBROUCKE, J. P. et al.: Lancet 344 (1994), 1453 |
5 |
BLOEMENKAMP, K. W. M. et al.: Lancet 346 (1995), 1593 |
6 |
Norwegian Medicines Control Authority: „Treatment of Venous
Thrombosis and Pulmonary Embolism”, Läkemedelsverket, 1995,
Seite 26 |
7 |
SZAREWSKI, A.: Lancet 348 (1996), 1371 |
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