Hängt ein Mundwinkel plötzlich herab, kann die Stirn nicht mehr gerunzelt werden und gelingt der Lidschluß nur unvollständig,
führt das die Betroffenen meist schnell zum Arzt. Der Ausfall der mimischen Muskulatur durch periphere Lähmung des Nervus facialis entwickelt sich
komplett oder inkomplett meist innerhalb von ein bis zwei Tagen. Etwa jeder dritten kindlichen Parese des VII. Hirnnervs in Endemiegebieten liegt
eine Infektion mit Borrelia burgdorferi zugrunde.1 Oft schlagen Erklärungsversuche fehl. Die Patienten geben dann häufig kalte Zugluft als
unmittelbare Ursache an.
BORRELIEN-INFEKTION: Die Spirochäte Borrelia burgdorferi wird durch Zecken übertragen (a-t 8 [1988], 70).2 Durchseuchungsquoten
sind regional unterschiedlich mit Endemiegebieten in Süddeutschland und Österreich. Dort tragen ungefähr 30% der Zecken Borrelien.3
Kinder sind durch ihr Spielverhalten Zeckenbissen besonders ausgesetzt.1 Im Stadium I der Lyme-Erkrankung findet sich klassischerweise an der
Bißstelle ein Erythema migrans meist mit geschwollenen Lymphknoten. Häufig bleiben diese Symptome unbemerkt. Neurologische Komplikationen wie
lymphozytäre Meningitis oder Meningoradikulitis kennzeichnen das zweite Stadium. Stadium III umfaßt Akrodermatitis, Arthritis und
Enzephalomyelitis.
Die Lyme-Borreliose Stadium II des Kindes tritt wegen der häufigeren Nähe der Zeckenbißstelle zum Kopf4 am häufigsten als
Fazialisparese in Erscheinung. Meist setzt sie nach zwei bis zwölf Wochen auf der Seite der Bißstelle ein, kann aber auch beide Seiten betreffen oder
wechseln. Selbst ohne Therapie klingt die Lähmung häufig spontan ab. Die Infektion dauert jedoch an, und die Erkrankung kann
fortschreiten.5,6
Drei von vier nachweislich an Lyme-Borreliose Erkrankten können sich nicht an einen Zeckenbiß erinnern.7 Deshalb sollen bei jeder
Gesichtsmuskellähmung Borrelien-Antikörper bestimmt werden. Weil die Titer am Anfang der Infektion bisweilen noch nicht erhöht sind, ist die
Serologie gegebenenfalls zu wiederholen. Antikörper finden sich bei 30% bis 60% der Betroffenen auch im Liquor. Eine erhöhte Liquor-Zellzahl kann
diagnostisch wegweisend sein. Bei ungeklärten kindlichen Fazialisparesen ist eine Lumbalpunktion zu erwägen.
Kinder mit Lyme-Erkrankung und Fazialislähmung erhalten zwei Wochen lang Ceftriaxon (ROCEPHIN) oder Cefotaxim (CLAFORAN)
intravenös.1,5,6 Serologische Kontrollen folgen nach drei Monaten. Die Prognose ist mit 90% Restitutio ad integrum insgesamt gut. Ein Impfstoff gegen
Borreliose befindet sich in der frühen Entwicklungsphase.8
OHRENTZÜNDUNGEN: Bei jeder Fazialisparese ist das Trommelfell zu inspizieren. Im Kindesalter folgt eine vom Ohr ausgehende Lähmung des
Gesichtsnervs am häufigsten einer akuten Mittelohrentzündung. Eine toxisch bedingte Neuritis mit Kompression im knöchernen Fazialiskanal
trägt zur Erkrankung bei. Die Frühparese zu Beginn der Erkrankung wird mit Antibiotika wie Amoxicillin (AMOXYPEN u.a.; a-t 12 [1992], 122), abschwellenden Nasentropfen und gegebenenfalls Glukokortikoiden behandelt. Stichinzision des
Trommelfells (Parazentese) entlastet und dient zur Keimbestimmung. Bei Spätparese oder fehlender Heilung soll die Mastoidektomie den Entzündungsherd
sanieren. Anhaltender Ohrfluß läßt an eine chronische Schleimhauteiterung sowie an ein Cholesteatom denken. Genuine Perlgeschwülste, die
charakteristischerweise hinter einem intakten Trommelfell liegen, verursachen nur selten eine Fazialisparese. Eine Tympanoplastik ist Behandlung der
Wahl.9
BELLSCHE LÄHMUNG: Die Diagnose der idiopathischen Fazialisparese, auch BELLSCHE Parese genannt, setzt Ausschluß von Traumen,
Tumoren und entzündlichen Prozessen voraus.10 Nach Ansicht einiger Autoren führt die Bezeichnung "idiopathisch" (selbständig
entstanden) in die Irre, weil Ursachen immer vorhanden, wenn auch nicht immer festzustellen seien. Vermutet werden primäre oder sekundäre
Ischämie, begünstigt durch Stoffwechselerkrankungen wie Diabetes mellitus, Kälteexposition, parainfektiöses oder autoimmunes Geschehen
sowie Virusinfektion. Die BELLSCHE Parese tritt ein- oder beidseitig auf und entwickelt sich meist innerhalb von ein bis drei Tagen.
Die Lähmung soll bei 60% der Erwachsenen spontan vollständig abklingen.9 Im Kindesalter scheint die Prognose besser zu sein. Restparesen,
vom Patienten selbst manchmal nicht bemerkte Mitbewegungen der mimischen Muskulatur oder Tränensekretionsstörungen können
zurückbleiben.
Der Nutzen einer Glukokortikoid-Therapie der idiopathischen Fazialisparese ist nicht hinreichend belegt.1 Die Steroide sollen der Druckentlastung des Nervs
dienen.11 Prednisolon (DECORTIN H u.a.) wird mindestens 5 Tage lang in einer Dosis von 2 bis 3 mg/kg Körpergewicht gegeben und dann über
weitere fünf Tage ausgeschlichen. Ende der achtziger Jahre erbrachte eine große prospektive Studie keinen Vorteil einer Steroidbehandlung.7,12
Einige uns beratende Kliniker empfehlen dennoch die Anwendung. Aktuelle aussagekräftige Doppelblindstudien fehlen.13 Uhrglasverband und
Augensalben schützen vor Austrocknung der Hornhaut. Frühzeitig soll die Beweglichkeit der Gesichtsmuskulatur unter krankengymnastischer Anleitung
vor dem Spiegel trainiert werden.
SELTENERE URSACHEN: Im Rahmen eines Herpes zoster oticus, der meist mit Schmerzen und herpetiformen Bläschen im Bereich des
Ohres einhergeht sowie mit Hochtonschwerhörigkeit und Schwindel, kann sich eine Lähmung des Gesichtsnervs entwickeln. Die Prognose ist schlecht.
Deshalb wird die Behandlung mit Aciclovir (ZOVIRAX u.a.) empfohlen, obwohl klinische Studien zur Behandlung des kindlichen Herpes zoster fehlen.14 Die
Kinder erhalten üblicherweise Aciclovir intravenös, Infusionstherapie und Glukokortikoide (nach 24 Stunden beginnend).
Fazialislähmungen können auch durch malignen Bluthochdruck bedingt sein. Nach einer neuen Untersuchung findet sich die Parese bei 12% der
Kinder mit schwerer renaler Hypertonie. Wird der Hochdruck behandelt, bessert sich oft auch die Lähmung. Bei allen Kindern mit Fazialisparese soll der
Blutdruck gemessen werden.15
Fazialislähmungen nach Felsenbeinfrakturen entwickeln sich als Früh- oder Spätparesen. Inkomplette Lähmungen erfordern
häufig nur eine entzündungshemmende Therapie. Bei höhergradiger Schädigung ist die operative Versorgung zu
erwägen.10
Wiederkehrende Paresen auf einer Seite, fehlende Besserung nach sechs Monaten sowie Befall anderer Hirnnerven weisen auf maligne Tumoren wie
Rhabdomyosarkome im Bereich der Ohrspeicheldrüse oder des Felsenbeins als Lähmungsursache hin.
Eine Fazialisparese des Neugeborenen kann durch Zangen-Entbindung hervorgerufen oder angeboren sein.
FAZIT: Eine von drei peripheren Fazialisparesen im Kindesalter kann in Endemiegebieten auf eine Borrelien-Infektion zurückgeführt werden. Diese
spricht auf gramnegativ wirksame Cefalosporine wie Ceftriaxon (ROCEPHIN) an. Meist bleibt die Ursache jedoch offen (BELLSCHE Lähmung).
Die Prognose ist überwiegend gut, die Therapie bleibt konservativ. Traumen, Tumoren und entzündliche Prozesse insbesondere der Ohren sind
auszuschließen.
|