Sind die Gesundheitsbehörden in Deutschland rechtzeitig tätig geworden, um die Übertragung von Virusinfektionen an
Empfänger von Blutprodukten auf das unvermeidliche Restrisiko zu begrenzen?
Der Bundesminister für Gesundheit stellt die Aufsichtstätigkeit des ihm unterstellten Bundesgesundheitsamtes (BGA) in einer Stellungnahme für den
Gesundheitsausschuß des Bundestages dar.
Sein Ministerium und die Bundesregierung kommen unter öffentlichen Druck. Durch Blutgerinnungspräparate (Faktor VIII und Faktor IX/PPSB)
hergestellt aus Rohplasma US-amerikanischer Spender sind in Deutschland möglicherweise über 2.000 Menschen HIV-infiziert worden. Betroffen
sind nicht nur Bluter, sondern auch intensiv-medizinisch betreute Patienten, die wegen eines Polytraumas, einer lebensbedrohlichen Blutung (z.B. Magenulkus) oder
zur Prophylaxe vor diagnostischen bzw. chirurgischen Eingriffen einmalig PPSB-Blutgerinnungskonzentrate erhielten und inzwischen an AIDS erkrankt sind.
Der Sachstandsbericht des Bundesministeriums klammert jedoch wesentliche Fakten aus.
Die heute in Deutschland verkauften Gerinnungskonzentrate mit Faktor VIII bzw. Faktor IX/PPSB erscheinen nach der ständigen Rechtsprechung des
Bundesgerichtshofes nicht mehr verkehrsfähig, da sie Rohplasma aus HIV-Risikoregionen bzw. von bezahlten Spendern enthalten.
Noch bis zum 23. März 1992 ließ die Bundesregierung Parlament und Öffentlichkeit im Glauben, eine Virusinaktivierung sei für
Gerinnungsfaktorenkonzentrate von Amts wegen angeordnet worden. Tatsächlich fehlt eine solche Anordnung bis heute. Im Bericht des
Bundesgesundheitsministeriums vom 30. Nov. 1992 wird behauptet, dem Bundesgesundheitsamt fehle eine Auflagenbefugnis, bestimmte Herstellungsverfahren
für Arzneimittel festzulegen. Eine solche Anordnungsbefugnis praktiziert das staatliche Bundesamt für Sera und Impfstoffe (Paul-Ehrlich-Institut) seit 1983
mit Zustimmung durch die Verwaltungsgerichtsbarkeit.
Das BGA betrachtete die verschiedenen Virusinaktivierungstechniken als gleichwertig, obwohl längst feststand, daß die Pasteurisierung bei mindestens 60
°C über mindestens 10 Stunden den Goldstandard für den Sicherheitsvergleich bildete.
Daß sich einzelne Institute des BGA über Zuständigkeiten streiten, wenn vitale Fragen der Arzneiversorgung zu lösen sind und der
Informationsaustausch über das HIV-Risiko von Plasmaderivaten zu beurteilen ist, ist für Außenstehende kaum zu verstehen. So hat das
Arzneimittelinstitut des BGA Kenntnis von 65 Verdachtsfällen einer HIV-Infizierung durch PPSB-Konzentrat*, etwa 40 Fälle erfaßte das AIDS-Zentrum
des BGA in Berlin, und kein Fall wurde angeblich dem Paul-Ehrlich-Institut bekannt. Entsprechend verzettelt wurden kardinale Ziele der Schadensbegrenzung
verfolgt wie
* | PPSB = Gemisch verschiedener Gerinnungsfaktoren u.a. Faktor IX. Es findet bei
Hämophilie B als Mittel der Wahl Verwendung und bei Gerinnungsstörungen auch bei Nichtblutern (z.B. im Blutmangelschock, nach Blutverlusten,
Synthesestörungen der Leber u.a.). |
- Gewinnung infektionsfreien Ausgangsmaterials bei Spendern,
- Erlangung harter und abgesicherter Unterlagen über die angewandten Virusinaktivierungstechniken,
- Marktrücknahme von Handelsware, die nicht dem Stand der medizinischen Erkenntnis oder der Verfahrenstechnik entsprach.
Während bis zum Ende der siebziger Jahre die Lebenserwartung der Hämophilen etwa der Durchschnittserwartung der Bevölkerung entsprach,
so liegt sie heute nach der HIV-Infizierung durch Plasmapräparate bei etwa 30 Jahren. Sie hat sich mehr als halbiert. Diese Angabe fehlt auf Seite 37 des
SEEHOFER-Berichtes. Über das Ausmaß der Gefährdung der Bluter durch den unbekannten Erreger des Immunschwächesyndroms AIDS
versuchen Bluterspezialisten und Gerinnungskonzentrateanbieter, die Aufsichtsbehörden im Verbund mit einem Virologen noch 1983 zu täuschen, als die
Erkrankung durch US-Plasmaderivate längst eingeschleppt ist. Den Tod eines im April 1982 in der Bonner Universitätsklinik verstorbenen
Hämophiliepatienten mit autoptisch gesicherter AIDS-Erkrankung klassifiziert die Mitinhaberin der Firma Immuno in der Jahresmitte 1983 als
"diagnostischen Irrtum". Weil der Tod bei einem Leberleiden eintrat, schuldigte sie ohne stichhaltige Begründung Alkoholkonsum als Ursache
an.2
Schon im Herbst 1986 gingen dem BGA drei Fallmeldungen über HIV-Infektionen nach PPSB "BEHRING" zu. Am 4. Dez. 1986 soll der
zuständige Sachbearbeiter des BGA ein Stufenplanverfahren zur Abwehr von Arzneimittelrisiken gegen die Firma Behring eingeleitet haben. Doch die
Behörde führte das Verfahren nicht fort, was indirekt an den Verdacht der Begünstigung im Amt denken läßt. Erst als im Juli 1987
virologisch kompetente BGA-Mitarbeiter Alarm schlagen, weil die Sicherheit von Faktor IX/PPSB außerhalb der Wahrnehmung der Gesundheitsbehörden
bleibt, wird erstmalig im Aug. 1987 ein Informationsaustausch des Amtes mit den pharmazeutischen Unternehmern über die Virussicherheit von PPSB
begonnen. Konsequenzen bleiben aus auch als feststeht, daß AIDS auf diesem Weg in die nicht typischen Risikogruppen einbricht etwa wenn
Patienten mit massiven Blutungen und konsekutivem Gerinnungsfaktormangel (z.B. massiv blutendes Magenulkus, massive Blutungen nach der Geburt) einmalig
PPSB intravenös bekommen müssen. Mitunter Jahre später wird eine HIV-Positivität zufällig entdeckt. Die Behauptung der AIDS-
Sicherheit von Blutprodukten nach dem Stichtag vom 1. Okt. 1985 wird erschüttert, wenn jetzt die Bundesregierung öffentlich erklärt, noch 1986 sei
"eine kleine Menge eines nicht inaktivierten Faktor-IX-Präparates der Fa. Organon-Technika in den Verkehr" gelangt und damit einen HIV-
Infektionsfall in Verbindung bringt.1
Die Bundesregierung lehnt eine Staatshaftung für HIV-Infektionen nach Blutprodukten ab, weil ein "Fehlverhalten von Beamten" nicht festgestellt
werden kann. Ist die feststellbare Untätigkeit verantwortlicher Mediziner wie im Fall von Prof. STEINBACH, dem zuständigen Ministerialdirektor im
Bundesgesundheitsministerium, nicht als Fehlverhalten zu erkennen?
Die Katastrophe für 11 mit PPSB-BIOTEST behandelte Patienten hätte sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vermeiden lassen, wenn die
Überprüfung der Zuverlässigkeit der sogenannten Biotest-Kaltsterilisation 1987 erfolgt wäre. Am 1. Juli 1987 wurde der zuständige
Abteilungsleiter des BGM, Prof. STEINBACH, auf das von PPSB-Gerinnungskonzentraten ausgehende Gefährdungspotential von einem Brancheninsider
hingewiesen. Weder BMG noch BGA sahen nach diesen Hinweisen Handlungsbedarf für Risikoabwehrmaßnahmen bei Blutgerinnungspräparaten
außer Faktor VIII trotz des Hinweises, Faktor-IX-haltige Präparate hätten im nahezu gleichen Ausmaß zu Anti-HIV-Positivität geführt,
und es sei in der klinischen Anwendung zu einer unbekannten Zahl von HIV-Infektionen gekommen.
FAZIT: Spätestens ab Herbst 1983 gab es den begründeten Verdacht, Blut und Blutderivate als Überträger von AIDS-Erkrankungen
einzustufen. Sofort mögliche wirksame Abwehrmaßnahmen wie strenge Indikationsstellung für Blutgerinnungskonzentrate mit
Dosisbeschränkungen, Poolgrößenlimits pro Herstellungscharge und Meldepflichten im Sinne des Seuchengesetzes für ansteckende
Krankheiten für arzneimittelinduzierte Infektionen und ab 1984 Herstellungsvorschriften für die Viruselimination aus Blutprodukten unterblieben und wurden
bis heute nicht eingeführt. Vor der Entdeckung von AIDS starb jeder zweite Bluter an den Folgen einer behandlungsbedingten Hepatitis. Ab 1981 standen
hitzeinaktivierte, relativ hepatitissichere Gerinnungsfaktorenkonzentrate zur Verfügung. Diese hätten wahrscheinlich auch die AIDS-Infektionen verhindert.
Darüber hinaus hätte Anfang der achtziger Jahre ein Importverbot für Blutprodukte genügt, um Bluter vor einer Infektion zu schützen,
deren tödliche Folgen schon bekannt waren.
1 | SEEHOFER, H.: "Zur HIV-Infektionsgefährdung durch Blutprodukte" vom
30. Nov. 1992 |
2 | DEINHARDT, F., M. EIBL: 1. Rundtischgespräch über AIDS am 18. Juni 1983 in
Frankfurt/M. |
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